Schattengrund
hatte, war es vorbei mit ihrer Beherrschung. Sie rannte los, über die Kreuzung, in die kleine Straße, die hinauf zu Schattengrund führte.
Sechsunddreißig
Nico stürmte ins Haus und schüttelte sich die Stiefel von den Füßen. Jacke und Mütze warf sie auf den Sessel, was Minx, die sich dort eingenistet hatte, mit einem Fauchen quittierte. Sie rannte die Treppe hinauf und warf sich auf ihr Bett. Dann weinte sie, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte.
Hätte sie ihm von dem Weihrauch erzählen sollen? Nein. Er wollte nichts mehr hören. Das hatte er ihr deutlich genug zu erkennen gegeben. Für ihn waren Nicos Nachforschungen nichts anderes als eine Ersatzhandlung, um ihr eigenes schlechtes Gewissen zu betäuben. Er spürte es nicht. Er sah es nicht. Er verhielt sich wie alle anderen in Siebenlehen. Sie schlossen die Augen, wenn das Böse durch ihre Häuser und Straßen schlich.
Ein Dachbalken knarrte. Nico erstarrte. Dieses Geräusch hatte sie noch nie gehört. Es klang, als ob jemand dort oben gerade einen unvorsichtigen Schritt gemacht hätte. Langsam und leise stand sie auf. Wo war das verfluchte Messer? Hatte sie sich nicht geschworen, es immer bei sich zu tragen?
Sie schlich in den Flur, und natürlich vergaß sie, dass die mittlere Diele beim Auftreten ähnlich klang wie Minx, wenn man ihr den Rouladennapf wegnahm. Diese Diele warnte jeden, auch den Unbekannten auf dem Dachboden. Nico blieb mit eingezogenem Kopf stehen und wagte kaum zu atmen. Es war totenstill.
Dann sah sie, dass die Falltür zum Dachboden offen stand. Würde sie es schnell genug schaffen, hinaufzuspurten, sie zuzuschlagen und zu verriegeln? Wohl kaum. Aber in dem schmalen Flur zwischen ihrem und Kianas Zimmer konnte sie auch nicht für den Rest der Nacht stehen bleiben. Wieder knarrte es. Dazu kam ein Rieseln – Steinchen oder Schlacke vielleicht, mit der die Decke isoliert worden war, und das leise Trappen und Wieseln der Mäuse. Einen niederträchtigen Moment lang dachte sie daran, Minx hochzujagen und zu sehen, was passierte.
Es passierte nichts. Auch ohne Minx. Niemand kam an die Dachluke. Vorsichtig machte Nico einen weiteren Schritt. Am Fuß der Leiter blieb sie stehen. Stille. Egal wer da oben war – entweder hörte er gerade volles Rohr Musik über Kopfhörer oder er war taub.
Wachsam wie ein Tier, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, kletterte Nico die ersten Sprossen der Leiter hoch. Als sie den Dachboden sehen konnte, spähte sie geduckt in alle Richtungen. Es war dunkel. Durch die Fenster fiel schon bei Tag kaum Licht. Sie ließ sich Zeit und schloss die Augen, um sie an die Finsternis zu gewöhnen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie zumindest die Umrisse erkennen. Die Möbel. Die Kisten. Ein Mann auf den Kissen, liegend. Schlafend.
Leon, war ihr erster Gedanke. Heiß wie flüssiges Blei schoss sein Name durch ihre Adern. Unmöglich, der zweite. Er war es nicht. Der Mann war kräftiger. Er schnarchte, laut und ungeniert. Das Liegen auf den Kissen war nicht gerade bequem. Nach wenigen Atemzügen warf er sich auf die andere Seite.
Nico war ratlos. Ein schlafender Mörder – das passte nicht zusammen. Wer sich in aller Seelenruhe in einem fremden Haus hinlegte, führte ja wohl nichts Schlimmes im Schilde. Sie stieg die Leiter herab und lief ins Erdgeschoss. Aus der Küchenschublade holte sie die Taschenlampe und das Messer. Letzteres steckte sie hinten in ihren Gürtel. Die Lampe knipste sie erst an, als sie wieder den Dachboden erreicht hatte und direkt vor dem Mann stand.
»Hallo?«
Etwas an ihm kam ihr bekannt vor. Er drehte sich ächzend um. Ein paar sanfte Augen blinzelten sie aus einem unrasierten Gesicht an.
»Maik!«
Verblüfft ließ sie sich neben ihn auf den Fußboden sinken. Maik musste wohl erst einmal zu sich kommen.
»Wie kommst du hier rein?«
»Tür war offen.«
»Das stimmt nicht. Sie war abgeschlossen.«
»Hab Schlüssel.«
Er beging den Fehler, den kleinen Bund vor Nicos Nase baumeln zu lassen. Blitzschnell schoss ihre Hand vor.
»He! Gib sie mir wieder!«
»Nein. Das ist mein Haus. Da kann nicht jeder kommen und gehen, wie er will. Was machst du hier eigentlich?«
Schnaufend setzte er sich auf.
»Kiana hat mir die gegeben, als es ihr nicht mehr so gut ging und ich öfter mal einkaufen für sie war.
»Ich denke, ihr liefert nicht nach Schattengrund.«
»Na ja …«
»Warum bist du hier?«
»Wollte dich besuchen. Fragen, wie es dir geht. Hab gehört, Trixi wollte
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