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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Steinen, klopfte gegen ein paar und sah sich genau um. Nico, die glaubte, dass er mit seiner Suche genug beschäftigt wäre, riskierte einen kurzen Blick um die Ecke, konnte aber im Gegenlicht seiner Lampe nicht viel erkennen. Ein Schatten, groß, breit, unnatürlich verzerrt. Aus. Der Mann drehte sich um, sie schnellte zurück in den Schutz der Dunkelheit und versuchte, mit der Wand des Stollens zu verschmelzen.
    Es war kein Zufall, dass er hier war. Er suchte sie.
    Wahrscheinlich glaubte er, sie wäre noch weiter in den Berg hineingelaufen. Im Moment fühlte er sich offenbar sicher. Was würde er als Nächstes tun? Sie wagte nicht, daran zu denken, ob er hier auf sie warten und was dann geschehen würde. Oh, hallo. Sie auch hier? Scheißwetter, nicht?
    Der Mann kam zurück und lief an ihr vorbei zum Ausgang. Sie hörte das Quietschen des Gitters. Er würde doch nicht hinaus in den Schneesturm und zurück nach Siebenlehen gehen? Unverrichteter Dinge? Ratlosigkeit, Todesangst und eine zaghafte, mühsam im Zaum gehaltene Hoffnung, vielleicht doch noch davon gekommen zu sein, lieferten sich in Nicos Innerem einen erbitterten Kampf. Dann hörte sie ein metallisches Klicken, das sie nicht einordnen konnte. Und sie war allein.
    Nico traute dem Frieden nicht. Sie blieb, wo sie war, und zählte bis hundert. Dann bis zweihundert. Dann bis dreihundert. Schließlich wagte sie es, einen Blick in die Eingangshöhle zu werfen. Es war stockfinster. Nur das niedrige Mundloch weiter oben war verschwommen zu erkennen. Saß er davor und wartete auf sie? Wohl kaum, denn der Wind blies unvermindert scharf. Kein Mensch würde da draußen reglos sitzend länger als zehn Minuten aushalten. Sie versuchte, seine Gestalt in der Höhle zu erkennen, musste sich aber eingestehen, dass sie die Hand nicht vor Augen sah.
    Aber sie spürte, dass sie allein war. Gerade, als sie aufatmen wollte, fiel ihr siedend heiß ihr Rucksack ein. Er musste noch immer draußen auf dem Boden direkt neben der Eisentür liegen. Sie stöhnte auf vor Wut und Verzweiflung. Genauso gut hätte sie ein Schild mit der Aufschrift »Nico ist hier« aufstellen können. Und wenn der Mann nicht blind gewesen war – wogegen alles, aber auch alles sprach, am meisten aber die Sicherheit, mit der er sich durch die Gänge bewegt hatte –, musste er ihn gefunden haben. Ein trockenes Schluchzen stieg ihr in die Kehle. Sie wusste nicht, was sie mehr ängstigte: dass er sie gesucht hatte oder dass er es, wider besseres Wissen, unterlassen hatte.
    Noch wagte sie nicht, ihre Taschenlampe anzumachen. Vorsichtig begann sie den Aufstieg über die eisglatten Steine und den Morast nach oben. Je näher sie dem Tor kam, desto schneller ging ihr Puls. Mehrfach rutschte sie aus und schlitterte ein paar Schritte zurück, fiel auf die Knie und versuchte, den stechenden Schmerz zu ignorieren. Endlich hatte sie das Mundloch erreicht. Ihr Rucksack war verschwunden.
    Sie wollte aufheulen wie ein Wolf. Der Verlust war unersetzlich. Der letzte Rest heißer Tee. Ihr Handy. Der Handwärmer mit dem aufgedruckten Winnie Puh, den sie genau deshalb nie benutzt hatte. Ein paar Karamellkekse in Cellophan, wie es sie zu Cappuccino dazugab und die sie nie gegessen, aber aus einem unerklärlichen Grund gesammelt hatte, bis sie eines Tages, pulverisiert, entsorgt wurden. Alles Dinge, die ihr den Weg zurück irgendwie erleichtert hätten. Sie lehnte die Stirn an das eiskalte Eisen. Es half nichts. Sie musste orientierungslos und ohne jede Hilfe im Schneetreiben zurück nach Siebenlehen finden.
    Zumindest heulte der Wind nicht mehr ganz so stark. Sie wollte das Tor aufstemmen und hinauslaufen, aber es ging nicht. Sie rüttelte, zerrte und drückte, warf sich dagegen, dass das Gitter in seinen rostigen Angeln zitterte, aber es blieb geschlossen. Schließlich knipste sie die Taschenlampe an, und was sie sah, ließ den letzten Rest Hoffnung verpuffen. Das Tor ging nicht auf, weil es mit einem Schloss verriegelt worden war. Ein altes Sicherheitsschloss, herzförmig, abblätterndes Email, mit einem Schlüsselloch in der Mitte. Blitzartig erinnerte sie sich, wo sie dieses Schloss schon einmal gesehen hatte: an Maiks Gürtel.
    Ihr wurde schwarz vor Augen. Die Taschenlampe fiel herunter und rollte weg. Sie klammerte sich noch an den Eisenstreben fest, um nicht hinzufallen, und glitt dann doch zu Boden. Sie hörte etwas keuchen. Schnell, atemlos nach Luft ringend, fast ein Schluchzen – sie hörte sich selbst, als wäre

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