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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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ihn dorthin zog.
    Sie versuchte, sich an seinen letzten Hinweis zu erinnern. Einfach nur geradeaus. Keine zwei Minuten. Nico presste die Zähne zusammen, um nicht durchzudrehen. Sie wagte nicht, an den Rückweg zu denken. Sie hatte sich hier schon einmal verlaufen. Doch im Gegensatz zu damals würde sie in dieser Nacht niemand mehr suchen.
    Langsam lief sie los. Leon, dachte sie. Warum hast du mich verraten? Du bist der Einzige, der mich jetzt noch hier rausholen könnte. Und ausgerechnet du glaubst mir nicht.
    Sie stolperte über einen weiteren toten Vogel. Er war schwarz, genau wie der, der sie so hart getroffen und verletzt hatte. Eine Krähe? Er erinnerte sie in fataler Weise an das geköpfte Tier, das man ihr in den Schornstein gestopft hatte. Der Täter lief immer noch frei herum. Vielleicht war es einer von denen gewesen, die sie bei der Prozession so nett angelächelt hatten? Es war eine unbegreifliche Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Vögel ihr Schicksal werden sollten. Von einer Krähe erstickt, von einer Krähe erschlagen … Sie blieb kurz stehen und sah in den Himmel. Hoffentlich fielen nicht noch mehr herunter. Es gab keinen Schutz. Wenn sie sich ins Unterholz schlagen würde, würde sie komplett die Orientierung verlieren. Schon jetzt waren es nur noch Instinkt und Gefühl, die sie weitertrieben.
    Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie sehnte diesen Stollen herbei, der wenigstens ein bisschen Schutz vor Kälte, Schnee und toten Vöglein versprach. Wenn sie nur einen Moment stehen bleiben würde, sich nur einen Augenblick hinsetzen würde – sie wusste, sie käme nicht mehr hoch und wäre verloren.
    »Maik!«
    Wie dünn ihre Stimme geworden war! Ihr Ruf wurde verweht und weggetragen. Obwohl Maik etwas Unverzeihliches getan hatte, als er sie einfach ihrem Schicksal überließ, konnte sie nicht böse auf ihn sein. Sie wusste, worauf sie sich eingelassen hatte. Er war verrückt. Aber er war auch der Einzige, der mehr gesehen und mehr gespürt hatte als alle anderen. Das war es, was ihre letzten Kräfte mobilisierte. Maik war im Stollen. Er kannte die Stelle, an der Fili gestorben war. Dort würde sie die Wahrheit finden.
    Ein Laut, wildes Flügelschlagen. Wieder scheuchte jemand die Vögel auf. Schwarze Schatten huschten hinauf in den dunklen Himmel. Fliegt bloß nicht zu hoch, dachte Nico. In eurem und meinem Interesse … Ihre Beine knickten ein, beinahe wäre sie gestürzt. Glühende Punkte tanzten vor ihren Augen. Der Steigung war mörderisch. Maiks Spur hatte sie schon längst verloren. Immer geradeaus, nur zwei Minuten … zwei Stunden, zwei Tage, zwei Ewigkeiten, das käme vielleicht hin …
    Sie erreichte eine schmale Ebene, der Weg wurde flacher. Dies musste der Bergrücken sein. Eine Art Terrasse, die sich an den nächsten Gipfel schmiegte. Das Laufen fiel Nico jetzt leichter. Es war auch heller als im Wald. Die Bäume hatte sie hinter sich gelassen, nur ein paar kleine Kiefern und verdorrte Ginsterbüsche stemmten sich gegen den eisigen Wind. Gleich erfriere ich, dachte Nico. Und irgendwo wird man drei Steine aufeinanderlegen als Mahnung an andere Wanderer, nicht so blöd zu sein und mitten in der Nacht am Beginn einer neuen Eiszeit auf diesen Berg zu klettern.
    Sie blinzelte. Der Wind steigerte sich langsam zu einem ausgewachsenen Schneesturm. Und als er für einen Moment quasi die Luft anhielt, um seine Kräfte für den nächsten Angriff zu sammeln, sah sie ihn: den Eingang zum silbernen Grab.
    Mundloch war gar kein schlechter Ausdruck. In der steil aufragenden Felswand gähnte eine Öffnung. Zunächst sah sie so aus wie der Eingang zu einer natürlichen Höhle. Je näher Nico kam, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen: Der Stein war grob behauen worden, um den Eingang zu verbreitern. Nach ein paar Metern verengte er sich. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe erkannte sie ein altmodisch geschmiedetes Eisengitter, so groß wie eine kleine Kellertür. Darauf die Symbole der Steiger: Schlägel und Bergeisen.
    Sie schaffte die letzten Meter mit Müh und Not. Als sie den Eingang erreicht hatte, lehnte sie sich keuchend an die Felswand und streifte den Rucksack ab. Er musste dreihundert Kilo wiegen. Ihre Lungen schmerzten, die Knie zitterten.
    »Maik?«
    Ihr Ruf echote dumpf von den Felswänden. Draußen wirbelte der Wind den Schnee auf und drückte ihn wie eine Wolke vor sich her. Ihre Fußspuren waren schon längst verweht. Nur auf den ersten Metern zum Mundloch waren sie noch zu

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