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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Sinn ergaben, wenn man alle gesehen hatte. Schau nach, was da liegt, dachte er trotz seiner Eile. Er ging auf eine der unnatürlichen Erhebungen zu und berührte sie mit dem Fuss. Sofort sprang er zurück. Das, was dort verborgen lag, musste etwas Lebendiges gewesen sein. Aus dem Schnee ragte ein schwarzer blutverkrusteter Flügel. Leon ging in die Knie und begann hektisch zu graben. Was er schließlich in den Händen hielt, verdichtete Angst und Übelkeit zum Schock. Es war eine Krähe. Gefroren und hart wie ein Stein. Und ihr fehlte der Kopf.

Dreiundvierzig
    Nico wusste nicht, wie lange sie am Gitter gestanden, daran gerüttelt und geschrien hatte. Irgendwann hatten sie die Kräfte verlassen und sie hatte nur noch hinaus in die Dunkelheit gestarrt.
    Vielleicht war es dieses Atemholen und Innehalten gewesen, das sie auf den inneren, schwach glühenden Kern ihrer letzten Reserven aufmerksam gemacht hatte. Hier oben war sie verloren. Wenn sie aber Schutz im Berg suchen würde, hätte sie vielleicht noch eine Chance.
    Mühsam zog sie ihre Handschuhe aus und wühlte in den Taschen nach etwas, das sie vor dem Gitter ablegen konnte. Ein Zeichen, dass sie hier gewesen war. Ein Hinweis an etwaige Retter weiterzusuchen. Aber sie fand nichts. Nur Kianas Stein. Und der sah genauso aus wie alle anderen, die hier herumlagen. Alles, was sie bei sich getragen hatte, war in dem Rucksack verstaut gewesen. Und den hatte Maik wohl längst irgendwo im Wald entsorgt.
    Weder auf ihre Mütze noch auf die Handschuhe konnte sie verzichten. Schließlich knotete sie mühsam die Schnürsenkel ihres linken Stiefels auf. Es kostete sie unendliche Mühe, die nassen Bänder aus den Ösen zu bekommen. Als sie es endlich geschafft hatte und sie sich wieder aufrichtete, wurde ihr schwindelig. Den Schnürsenkel am Stil des eisernen Schlägels festzuknoten, war mit ihren steifen Fingern fast ein Ding der Unmöglichkeit. Endlich hatte sie es geschafft.
    Schnaufend und tatterig wie eine alte Frau hangelte sie sich an der glitschigen Wand entlang hinunter bis zu dem eigenartigen Vorraum, von dem die Erzgänge abzweigten. Welchen sollte sie nehmen? Das Licht ihrer Taschenlampe leuchtete nicht mehr so hell. Panisch erkannte sie, dass die Batterien langsam, aber sicher zur Neige gingen.
    Es war immer noch eisig kalt. Irgendwo hatte sie einmal gehört, dass die Temperatur im Inneren eines Berges immer gleich blieb. Zwischen zehn und zwölf Grad. Verglichen mit dem, was sie gerade durchmachte, war das Hochsommer. Also sollte sie am besten einen Stollen wählen, der möglichst weit in den Stein getrieben worden war. Das allerdings würde ihre Chance schmälern, schnell gefunden zu werden. Was tun?
    Sie fädelte den zweiten Schnursenkel aus und wickelte ihn um Kianas Stein. Dann traf sie ihre Wahl. Sie würde es mit dem mittleren Gang versuchen. In ihm war Maik am längsten verschwunden gewesen.
    Sie platzierte den Stein auf dem Boden direkt vor der dunklen Öffnung des Stollens. Mehr konnte sie nicht tun. Wie spät war es? Mitternacht? Ein Uhr morgens? Ich muss bis zum Morgen durchhalten, dachte sie. Meine Mutter wird kommen und Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mich zu finden. Sie wird mit Leon sprechen, und der wird ihr sagen, dass ich hier hoch wollte …
    … wenn Leon überhaupt noch in Siebenlehen war. Der Gedanke, dass er und sein Vater das Dorf verlassen würden, sobald die Räumfahrzeuge es erreicht hatten, ließ die schöne Vorstellung ihrer Rettung platzen wie eine Seifenblase.
    »Scheiße!«, brüllte sie. Und wieder: »Scheiße!«
    Sie trat gegen die Felswand, aber weh tat sie damit eigentlich nur sich selbst. Und sie verlor beinahe ihre Stiefel.
    Reiß dich zusammen, sagte sie sich. In diesem Gebirge aus Erz und Stein bist du die einzige lebende Person. Und wenn du vorhast, dass es auch so bleibt, dann tu endlich mal was, was dich weiterbringt und nicht fertigmacht.
    Der mittlere Gang. Sie holte tief Luft, leuchtete mit dem immer dünner werdenden Strahl ihrer Taschenlampe in die schwärzeste Dunkelheit, die sie jemals gesehen hatte, und marschierte los.

Vierundvierzig
    Der Wind raste ungebremst über das schmale Hochplateau und warf sich Leon mit einer Wucht entgegen, die ihn fast in die Knie zwang. Das Unwetter nahm an Heftigkeit zu, wurde zu einem Blizzard, einem Schneesturm, der hier oben in einer Wut toben konnte, von der man unten im Tal allenfalls noch ein paar laue Lüftchen mitbekam. Wie sollte er Nico finden? Und wie den Eingang

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