Schattengrund
erkennen, geschützt durch die Felswände. Sie war die Einzige, die bis hierher gekommen war.
In wachsender Panik suchte sie jeden einzelnen Meter vor dem niedrigen Tor ab. Sie rannte zurück auf die Hochebene. Der Wind peitschte ihr Eiskristalle ins Gesicht. »Maik!«, schrie sie. »Wo bist du? Maik?«
Sie schnappte nach Luft, das Atemholen fiel ihr schwer. Wie Nebelschwaden zogen die Schneegestöber vorüber. Schemenhaft bewegten sich die Schatten der Baumwipfel, die sich unter der Last des Unwetters bogen. Entmutigt und verzweifelt stolperte sie zurück in den kümmerlichen Schutz des Mundlochs. Nicht nur, dass die Einsamkeit auf einmal beinahe zu greifen war, sie hatte auch ihren Führer verloren. Der Weg zurück nach Siebenlehen war ohne Maik nicht zu schaffen. Die Frage, ob ihm ein Unglück zugestoßen war oder ob er sie mit Absicht hier oben alleine gelassen hatte, raubte ihr beinahe den Verstand.
Vorsichtig bewegte sie sich über das Geröll und die vereisten Steine auf den Stolleneingang zu. Sie erwartete, das Tor abgeschlossen vorzufinden, doch es ließ sich – etwas mühsam – öffnen. Es quietschte dabei in den Angeln. Die Angst, hier hineinzugehen, war neu, noch nie erlebt und übermächtig. Sie leuchtete in den finsteren Gang.
Er führte einige Meter steil bergab. Nico kam mehrmals ins Rutschen und konnte sich nur mit Mühe an den glitschigen, vereisten Wänden festhalten. Dann erreichte sie festen Grund. Eine Art hoher Vorraum, von dem, wie Maik erzählt hatte, mehrere Gänge abgingen. Zumindest in diesem Punkt hatte er nicht gelogen. Fünf Stollen waren von hier aus in den Berg getrieben worden, einer sah gefährlicher aus als der andere. Steinbrocken hatten sich gelöst und bedeckten den Boden. Der Gang zu ihrer Linken war fast völlig verschüttet. Wohin er einmal geführt hatte, hatte Maik nicht gesagt. Aber Leons Ausführungen waren ihr dafür umso präsenter. Der Berg war durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Er war ein Labyrinth von aufgegebenen Stollen und toten Gängen. Einer sollte sogar quer durch den ganzen Harz bis zum Kyffhäuser gehen. Zu Barbarossa. Das hatte Valerie ihr erzählt. Wie gerne säße sie jetzt mit ihr auf dem Bett und würde schlimmstenfalls sogar freiwillig für die Matheklausuren büffeln! Noch nicht einmal ihr Handy funktionierte. Der Akku war leer und an eine Verbindung war hier oben sowieso nicht zu denken.
Sie leuchtete in die Eingänge der anderen Stollen. Zwei sahen so aus, als wären sie nur unter Lebensgefahr zu betreten, und die letzten beiden waren auch nicht sehr vertrauenerweckend. Sie überlegte fieberhaft, in welchem sie sich mit Fili verkrochen hatte, konnte sich für keinen entscheiden und beschloss, ihr Glück mit dem Gang rechts außen zu probieren.
Nach fünf Metern und einer Biegung erkannte Nico, dass es hier nicht mehr weiterging. Vor langer Zeit mussten das wohl auch Waldarbeiter oder andere wohlmeinende Zeitgenossen gedacht haben. Der Stollen war verfüllt und die Steine waren an einigen Stellen mit Zement befestigt worden. Die Arbeiten sahen nachlässig aus, manche Fugen hatten tiefe Risse. Nico vermutete, dass dieser Gang wohl schon seit Jahrzehnten gesperrt war. Damit kam er nicht in Frage.
Sie wollte gerade wieder zurückgehen, als das Eisentor des Mundlochs quietschte. Hatte sie es offengelassen? Spielte der Wind damit und war ihr jemand gefolgt? Ohne zu überlegen schaltete sie die Lampe aus und verharrte regungslos in der Dunkelheit. Sie wusste nicht, was sie davon zurückhielt, laut Maiks Namen zu rufen und zum Eingang zu stürmen. Es war ein Gefühl von Schutzlosigkeit, das Nico überfiel und immer stärker wurde.
Sie war in einer Sackgasse. Egal, wer das silberne Grab gerade betreten hatte – er rief nicht, er klirrte nicht und machte auch nicht auf sich aufmerksam. Noch bevor sie sich ein Versteck überlegen konnte, hörte sie Schritte. Schwere Schritte von schweren Stiefeln, die den Vorraum erreichten und knirschend mal in die eine, mal in die andere Richtung gelenkt wurden. Wenn es Maik war, dann hatte er seinen Gürtel abgelegt. Dann war er schlauer, als sie alle dachten. Dann wollte er sich nicht verraten, bis er sie gefunden hatte. Nein, dachte sie. Das kann nicht sein. Ich täusche mich doch nicht so sehr in einem Menschen.
Nico presste sich mit dem Rücken an die Wand. Sie hielt die Taschenlampe umklammert, ihre einzige Waffe, die gegen einen erwachsenen Mann nicht viel ausrichten würde. Leon, schoss es durch ihren
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