Schattengrund
Watte in ihren Ohren. Wieder tanzten glühende Punkte vor ihren Augen. Das ist das Ende. Jetzt ist es so weit. Du hast es weit gebracht, Nico, aber hier oben holt dich keiner mehr raus.
Maik.
Wie konnte er so etwas tun? Was hatte den Mörder, das Tier in ihm geweckt? Warum hatte er sie erst heraufgelockt, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen? Hatte er insgeheim gehofft, dass sie sich verlaufen würde? Abstürzen? Erfrieren? Und damit wäre das Problem gelöst?
Aber welches Problem?
War Maik der Mann gewesen, der Fili wehgetan hatte? Sie blinzelte und hatte Mühe, ihre Augen aufzubekommen. Ihre Tränen gefroren, ihre Nasenflügel klebten zusammen, wenn sie scharf einatmete. Sie konnte hier nicht sitzen bleiben. Sie würde sterben. Schon spürte sie, wie ihre Beine gefühllos wurden und ihre Finger ganz taub waren, obwohl sie Handschuhe trug. Mühsam, unter Auferbietung aller Kräfte, zog sie sich an den schmiedeeisernen Querstreben hoch.
»Maik!«, brüllte sie. »Hol mich hier raus! Wir können über alles reden, hörst du? Maik!«
Weit hinten, fast verschluckt von der Dunkelheit und dem fallenden Schnee, glaubte sie, eine dunkle Silhouette erkennen zu können.
»Maik!« Ihr Schrei wurde vom Wald und vom Wind verschluckt. »Komm zurück!«
Der Schatten war verschwunden.
»Maik! Lass mich nicht allein, bitte …«
Nico schrie, brüllte, wimmerte, hieb mit den Fäusten gegen das Gitter, spürte den Reif nicht auf den Wimpern, genauso wenig wie die Tränen aus Eis, heulte sich die Seele aus dem Leib, nur um den Moment hinauszuzögern, in dem sie erkennen würde, dass sie alleine mit dem Unfassbaren war. Nur sie, der Schneesturm und der Tod waren jetzt noch hier.
Zweiundvierzig
Leon glaubte, einen Schrei zu hören.
»Nico?« Er war schon ganz heiser vom Rufen. »Nico! Wo bist du?«
Er lauschte. Nichts. Wahrscheinlich war es ein Vogel, den das Unwetter aufgestört hatte. Am liebsten wäre er den Weg zur Kreuzung gerannt, doch er wusste, dass das ein Fehler wäre. Langsam und stetig, mit sicherem Tritt, so kam man ans Ziel. Nur Anfänger überschätzten sich und jagten los, um irgendwann völlig aus der Puste keinen einzigen Schritt mehr weiterzukönnen.
Offenbar waren Nico und Maik solche Anfänger, aber leider ziemlich gut trainierte. Leon spürte die wachsende Angst, dass er zu spät kommen würde. Zu spät für was, das wagte er sich nicht auszumalen. Nico und Maik alleine am Berg. Der sanftmütige Riese mit dem Kinderblick und seinem Hang zu Märchen, den Nico fatalerweise auch noch teilte. Wie schnell diese Märchen zum Albtraum werden konnten, hatten sie hier alle schon einmal erlebt. Zwölf Jahre war das her. Seit Nicos Auftauchen schien es, als wären die furchtbaren Ereignisse erst gestern passiert.
Jedes Wort, das er in seiner Wut gesagt hatte, tat ihm leid. Er hoffte inständig, noch eine Gelegenheit zu bekommen, um sich zu entschuldigen. Und dass Nico ihm verzeihen würde. Sie hatte ihn dazu gebracht, mit seinem Vater zu reden. Er war heilfroh, dass er dieser Konfrontation nicht ausgewichen war. Nicht auszudenken, wie er mit diesem Verdacht hätte leben sollen. Wie böses Gift hätte das alles zersetzt, woran Leon glaubte. Wie glücklich durfte er sich fühlen, dass sein Vater ihn verstanden hatte. Und dass er jeden einzelnen Vorwurf plausibel hatte widerlegen können.
Leon erreichte die Kreuzung und blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen. Was, wenn es anders gekommen wäre? Wenn sein Vater die Untat gestanden hätte? Wie ging man um mit einem solchen Frevel in der eigenen Familie? Löschte er alles aus, was bis dahin gegolten hatte – Liebe, Vertrauen, Achtung? Gab es überhaupt einen Ausweg aus einem solchen Abgrund von Schuld? Ja, dachte er. Es gibt ihn. Ich hätte ihm ins Gesicht geschlagen, aber dann hätte ich ihn in die Therapie geschleift. Es gab solche Einrichtungen, die Männern halfen, ihre Pädophilie als das zu erkennen, was sie war. Eine grausame Verirrung, die Kindern unermessliches Leid zufügt. Eine Krankheit der Psyche, die man behandeln konnte. Aber wer dem Trieb nachgab, beging ein Verbrechen. Dafür gab es keine Entschuldigung. Wer das merkte, an sich oder anderen, und die Augen verschloss aus Angst, dass alles in Scherben zersprang, wusste nicht, dass er schon längst in einem Scherbenhaufen saß.
Maik. War es doch Maik gewesen?
Was hatte sich damals abgespielt? Und Trixi? Vielleicht hatte sie etwas geahnt, aber ihre Angst, den wenigen Hinweisen
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