Schattengrund
Kopf. Vielleicht war er gekommen, um sie zu suchen? Aber warum machte er sich dann nicht bemerkbar?
Weil er glaubte, dass sie weiter in einen offenen Gang gelaufen war?
Um ein Haar hätte sie aufgestöhnt vor Angst. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich schwach und ausgepumpt wie nach einem Marathon. Gleich würden ihre Beine nachgeben, und dann läge sie wieder auf dem Boden, ohnmächtig, und niemand wäre in der Nähe, der es gut mit ihr meinte. Im Gegenteil.
Die Schritte hielten inne. Der Unbekannte schien mitten im Vorraum zu stehen und zu überlegen. Dann hörte Nico, wie er sich in Bewegung setzte und genau auf ihren Gang zukam. Langsam glitt sie an der Wand entlang in die Hocke. Sie wollte nach einem Stein greifen, aber dadurch kam sie aus dem Gleichgewicht und die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand. Das Geräusch schmerzte ungefähr so laut in ihren Ohren wie zwei kollidierende Lastzüge. Sie hielt den Atem an.
Der Unbekannte tat das Gleiche. Kein Laut war zu hören, nur das Heulen des Windes klang, verzerrt und wie aus weiter Ferne, in Nicos Ohren. Oder war es ihr Blut, das durch die Adern raste? Sie tastete vorsichtig über den Boden. Ihre Fingerspitzen berührten die Schlaufe, die am Griff der Lampe angebracht war, aber sie hatte Angst, sie aufzuheben und sich mit dem nächsten, noch so leisen Geräusch zu verraten.
Es knirschte. Der Mann hatte einen Schritt gemacht. Noch einen. Und noch einen. Nico spürte, wie ihr trotz der eisigen Kälte heiß wurde. Er betrat ihren Gang. Er kam auf sie zu. Sie hatte keine Chance. Mit der Rechten ertastete sie einen Stein, aber er war einbetoniert und rührte sich nicht vom Fleck. Sie versuchte, einen anderen in Reichweite zu finden, aber es waren entweder winzige Kiesel oder unverrückbar feste, große Brocken. Lieber Gott, bitte nicht, betete sie. Ich will nicht hier oben sterben. Licht flammte auf und traf auf die Geröllmasse direkt vor ihr. Sie kauerte sich noch enger an die Wand. Sie hatte das Gefühl, der Unbekannte würde nur eine Armlänge von ihr entfernt stehen bleiben und in schnellen, heftigen Zügen atmen.
Der Schein zitterte über die Steine. Manche blinkten geheimnisvoll auf. Es musste Erz hier oben geben, Silbererz. Es war vielleicht nicht mehr rentabel genug, um abgebaut zu werden, aber das Funkeln wirkte märchenhaft und geheimnisvoll. Nico hörte, wie der Unbekannte tief Luft holte, und fragte sich, ob man an so einem Geräusch einen Menschen erkennen konnte. Leon war es jedenfalls nicht, da war sie sich mittlerweile hundertprozentig sicher. Die Hand, die die Taschenlampe hielt, kam in ihr Blickfeld. Orangener Fleece. Sah oft benutzt aus.
Sie wusste, wenn der Unbekannte nur einen einzigen Schritt weitergehen würde, konnte er sie sehen. Sie hielt die Luft an. Hoffentlich roch er sie nicht. Oder die Pizza, die sie vor so langer Zeit in einem anderen Leben gegessen hatte. Welchen Teufel hatte sie aus seiner Hölle aufgescheucht? Welche Bestie von der Leine gelassen? Bittere Vorwürfe jagten durch ihren Kopf. Warum war sie nicht dem Rat ihrer Eltern gefolgt und hatte Schattengrund dort gelassen, wo es hingehörte: ins Reich der vergessenen Sünden, der verborgenen Schande, ins Märchenland mit dem Namen »Die Zeit heilt alle Wunden« … Sie musste sich beherrschen, nicht laut aufzuschluchzen vor Angst. Nur einen Schritt. Nur einen einzigen, verdammten, winzigen Schritt …
Das Licht huschte die gegenüberliegende Wand entlang und verschwand. Die Schritte schlurften zurück. Sie merkte, dass sie die Kontrolle über ihren Körper verlor. Ihre Knie zitterten unkontrolliert. Ihr Magen hob sich. Auch das noch, schoss es ihr durch den Kopf. Meinem Mörder vor die Füße zu kotzen … Der Unbekannte schien zu überlegen, welchen Gang er sich als nächsten vornehmen sollte. Er entschied sich für den nebenan. Noch bevor Nico ihr Glück fassen konnte, kam er zurück. Der mittlere Stollen war nun an der Reihe. Einer nach dem anderen wurde einer kurzen Kontrolle unterzogen. Im letzten blieb er länger. Nico wusste nicht, warum, aber sie nutzte diesen kurzen Moment, um ihre Lampe zu finden und von dem verfüllten Stollen in den Gang nebenan zu schlüpfen. Ihr Überlebensinstinkt gab ihr recht. Der Unbekannte kehrte zurück und blieb unschlüssig in der Mitte der Höhle stehen. Dann ging er zielstrebig genau dorthin, wo Nico noch vor wenigen Augenblicken in Todesangst gesessen hatte.
Er leuchtete alles genau ab. Ging sogar bis zu den verfugten
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