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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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bei dem Gedanken, dass auch der Pfarrer schon wach war. Vielleicht bereitete er die Morgenmesse vor. Wenn er noch dazu kam und ihn die Ereignisse nicht überrollen würden …
    Das Quietschen einer Tür ließ Nico herumfahren. Jemand knipste das Flurlicht an. Nicos Herz klopfte bis zum Hals, als sie die gebeugte Gestalt Zitas erkannte. Die alte Frau trug ein bodenlanges Nachthemd. Das weiße halblange Haar fiel ihr ungekämmt auf die Schultern. Ihr Gehstock wackelte genauso wie ihre Beine, als sie in den Gastraum kam. Aber ihre Augen funkelten böse. So böse, dass Nico sich den Impuls, auf sie zuzugehen und ihr zu helfen, verkniff.
    »Schon so früh wach?«, sagte die Alte. »Und die Koffer gepackt?«
    »Es wäre besser, wenn Sie wieder ins Bett gingen.« Nico wunderte sich, wie ruhig sie klang. Das musste die Erschöpfung sein. Für alles andere hatte sie keine Kraft mehr.
    »Sag du mir nicht, was besser für mich wäre«, zischte die alte Frau. Sie hielt auf den ersten Tisch zu und versuchte, einen der Stühle herunterzuziehen. Das gelang ihr nicht, gleich zwei Exemplare polterten zu Boden. Nico löste sich vom Fenster und ging widerwillig auf Zita zu. Sie hob einen der Stühle auf, stellte ihn vor die Frau hin und machte eine Handbewegung, mit der sie sie aufforderte, Platz zu nehmen.
    »Oh, sehr freundlich«, war der bissige Kommentar. »Nun? Genug Unfrieden gestiftet?«
    »Nein. Ich habe vor, noch eine Zugabe zu geben.«
    »Ah. Eine Gratisvorstellung. Wo denn? Hier?«
    »Wenn es sein muss.«
    Nico sah ungeduldig zur Tür. Wo blieb Leon? Sie wollte nicht mit Zita allein bleiben. Filis Großmutter war ihr unheimlich. Nicht nur, weil sie so großzügig mit ihren Flüchen umging.
    »Und wen willst du dieses Mal an den Pranger stellen?«
    »Den Schuldigen, Zita.«
    »Für dich immer noch Frau Urban! Und wer wäre das?«
    Nicos Blick flitzte wieder zur Tür. »Ich weiß nicht, ob Leon will, dass Sie das mitkriegen. Aber andererseits – Sie haben ja damals so gerne weggesehen, dann wird Ihnen das Hinschauen heute vielleicht ganz guttun.«
    »Wie meinst du das?« Die alte Frau stützte sich auf ihren Stock und beugte sich vor. »Weggesehen? Wie meinst du das?«
    »Fili wurde missbraucht. In diesem Haus. Vor aller Augen.«
    Zita stieß ein Zischen aus. Nico hätte sich nicht gewundert, wenn sie sich vor ihren Augen in eine Schlange verwandelt hätte. »Du wagst es? … Du wagst es? So eine Anschuldigung? So ein Wort?«
    »Ja. Missbrauch. Man könnte es auch Vergewaltigung nennen. Aber das ist für zarte Ohren wie die Ihren wohl noch schlimmer. Ein sechsjähriges Mädchen. Ihre eigene Urenkelin Fili wurde oben in ihrem Zimmer zu Dingen gezwungen, die sie nicht hören möchten. Oder?«
    Zita stöhnte auf. In Sekundenschnelle wurde ihr Gesicht zu einer papiernen Fratze. Abscheu, Ekel und Verständnislosigkeit spiegelten sich darin. Sie wusste es nicht, dachte Nico schockiert. Himmel, sie sieht so aus, als wusste sie es wirklich nicht.
    »Es … Es tut mir leid.« Nico räusperte sich. »Aber es ist die Wahrheit. Und wir wissen, wer es getan hat.«
    Zita rang nach Worten. Eigentlich rechnete Nico damit, dass nun Widerspruch kommen würde. Empörtes Abstreiten, wüste Beschimpfungen, Flüche. Das ganze Programm. Aber die alte Frau schien noch mehr zu schrumpfen, geradezu in sich zusammenzufallen.
    »Kiana …« Die faltige, blau geäderte Hand fuhr ruhelos über die Tischkante. »Sie war meine Freundin. Sie hat versucht, mit mir zu reden, aber ich wollte es nicht hören. Böse Dinge. Schreckliche Dinge hat sie gesagt. Ich habe sie rausgeworfen. Ich habe ihr nicht geglaubt. Warum sollte ich dir glauben?«
    »Weil es die Wahrheit ist.«
    »Die Wahrheit? Was ist das denn? Das, was man ahnt, oder das, was man weiß? Wovon redest du? Raus mit der Sprache!«
    In diesem Moment polterte Leon die Treppe hinunter und lief weiter in Trixis und Zachs Wohnung.
    »Ich will lieber warten, bis Leon dabei ist.«
    »Leon … ja.« Zitas Blick verlor sich irgendwo in der Ferne. »Der letzte der Urbans. Der Erbe. Mein Urenkel. Wie Philomenia …«
    Leon kam um die Ecke und stürmte in die Gaststube.
    »Trixi ist nicht da! Wo ist Trixi?« Sein Blick fiel auf seine Großmutter.
    Zita schreckte hoch. »Sie wird in der Kirche sein. Saufen und Beten. Ihr Ein und Alles.«
    »In der Kirche ist niemand. Aber im Gemeindehaus ist noch Licht«, sagte Nico.
    »Ich gehe schnell rüber. Zita, geh ins Bett.«
    Er wollte sich abwenden, aber die alte Frau

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