Schattengrund
hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn nicht gleich auf die Couch gelegt hatten, aber jetzt schien es ein Ding der Unmöglichkeit, ihn zu wecken oder ins Wohnzimmer zu tragen.
Noch bevor der Tee fertig war, kam Leon zurück. »Sie schätzen, dass in drei Stunden die Straße frei ist, und schicken dann sofort einen Krankenwagen.« Er nahm einen Becher und trank. Dabei vermied er es Nico anzusehen.
»Und die Polizei?«
»Die rufe ich hinterher an. Wenn … Wenn wir alles besprochen haben.«
Mit einem misstrauischen Blick entfernte Nico den Teebeutel aus ihrem Becher. »Was soll das heißen, hinterher? Warum nicht gleich?«
Er stellte den Becher ab. Dann beugte er sich kurz hinunter zu Maik und überzeugte sich, dass der tief und fest schlief. »Was haben wir denn in der Hand?«, fragte er leise. »Eine Kinderzeichnung.«
»Einen Namen.«
»Das reicht noch nicht mal für eine Anzeige. Das ist nichts, Nico. Nichts.«
»Nichts?«, fauchte sie. »Fili hat ihren Peiniger gemalt! Sie hat seinen Namen an die Wand geschrieben! Wovor hast du Angst? Dass man dich in Siebenlehen auch nicht mehr leiden kann, wenn die Wahrheit ans Licht kommt? So weit waren wir doch schon mal.«
»Ja. Und ich habe mit meinem Vater gesprochen. Das war kein schönes Gespräch, das kannst du mir glauben. Wie wird es erst ablaufen, wenn wir den Richtigen haben? Denkst du, er knickt ein, gesteht alles und bittet um ein paar nette Jahre Knast mit anschließender Therapie? Es gibt keine Beweise! Fili ist tot! Seit zwölf Jahren!«
»Dann wird es Zeit, dass das endlich gesühnt wird!«
»Indem du die Polizei einschaltest und alles nur noch schlimmer machst? Was willst du denen sagen? Dass du was aufgeschnappt hast, als du ein kleines Mädchen warst? Dass dein lieber Freund Maik tote Kinder im Berg sieht? Dass Fili ein Märchen, ein blödes, dummes Märchen, für bare Münze genommen hat?«
Nico wandte sich ab. Ihre Knie zitterten. Mit der Enttäuschung kam ein mindestens genauso furchtbares Gefühl: Leon hatte recht. Sie würden den Täter niemals zur Rechenschaft ziehen können. Leon trat auf sie zu und wollte ihre verletzte Wange berühren. Unwillig drehte sie den Kopf weg. Er sollte nicht sehen, wie sehr sie das alles mitnahm.
»Und dass er mich umbringen wollte?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
Leon seufzte. »Alles, was da oben zu finden ist, ist Maiks Schloss. Damit wirst du höchstens den Falschen in den Knast bringen.«
»Seine Verletzungen?«
»Ein Sturz. Selbstverstümmelung. Irgendwas. Ich hasse es, dir das zu sagen. Aber alles, was wir tun können, ist, den Täter mit unserem Wissen zu konfrontieren und zu sehen, wie er reagiert. Und da, Nico, will ich dich lieber raushalten.«
»Ich komme mit. Ich will ihm ins Gesicht sagen, was er Fili angetan hat!«
»Nein!«
»Doch!«
Leon umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. In seinen Augen funkelten Wut und Zärtlichkeit. Eine Mischung, die Nicos Knie noch wackeliger machten.
»Du kannst dich kaum noch auf den Beinen halten. Überlass es mir. Bitte.«
»Nein.«
Sie sahen sich in die Augen. Keiner senkte den Bick, keiner gab auch nur einen Millimeter nach.
»Okay«, sagte er schließlich.
»Wann?«
»Jetzt. Im Morgengrauen fällt das Lügen schwerer.«
Einundfünfzig
Es war kalt im Schwarzen Hirschen, dunkel und kalt. Nico ging gleich in die Gaststube. Leon rannte nach oben, um seinen Vater zu wecken und ihm von den Ereignissen der Nacht zu berichten. Er hatte darauf bestanden, ihn dabeizuhaben. Als Zeugen, vielleicht auch als Beschützer, wenn jemand durchdrehte. Es würde das schwierigste Gespräch werden, das Nico jemals geführt hatte. Ihr war schlecht vor Angst und der Anstrengung, sie nicht zu zeigen.
Nico ging ans Fenster und sah hinüber zur Kirche. Der Himmel war immer noch dunkel. Eigentlich hatte sie erwartet, einen Vorboten der Morgendämmerung am Firmament zu entdecken, aber dafür war es wohl noch zu früh. Es hätte genauso gut Mitternacht sein können.
Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien. Die Räumfahrzeuge waren schon unterwegs. Bald hätte Siebenlehen wieder Anschluss an den Rest der Welt. Sie dachte an ihre Mutter, die verging vor Sorge, und musste sich eingestehen, dass Stefanie mit ihren Bedenken nicht ganz danebengelegen hatte. Kurz geriet sie in Versuchung, das Telefon zu benutzen und sie anzurufen. Dann ließ sie es bleiben.
Ein Licht ging an in einem Haus schräg gegenüber. Es musste das Gemeindehaus sein. Sie wurde unruhig
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