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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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ist die heilige Barbara.«
    »Es ist Fili! Und es ist ein Albtraum! Hört das denn nie auf? Ich kann nicht mehr. Alles geht den Bach runter. Der Hirsch ist pleite. Zach sitzt nur noch da. Und alle Jubeljahre kommt die Sippschaft aus England mit den tollen Autos vorgefahren und reibt uns unter die Nase, was wir alles falsch machen. Und Sie – Sie sagen mir jahraus, jahrein, das ist alles nicht so tragisch, das wird schon wieder, das muss man jetzt alles endlich mal vergessen … Ich vergesse nichts. Gar nichts.«
    Die letzten Worte hallten in der Kirche wieder und sie klangen wie eine Drohung.
    »Ich will weg. Ich mache reinen Tisch und gehe. Es ist mir egal, was Sie sagen. Egal! All der Scheiß von Vergessen und Vergeben. Damit alle hier weitermachen können, als wäre nichts geschehen? Ohne mich.«
    Sie wollte aufstehen, aber Gero legte ihr die Hand auf die Schulter und zwang sie, sitzen zu bleiben. Die Kerze stand näher bei ihm als bei ihr. Er konnte die Angst in ihren Augen sehen.
    »Tu es nicht.«
    Sie biss sich auf die Lippen. In diesen aufgeschwemmten Zügen, diesem von Enttäuschung, Leid und Egoismus geprägten Gesicht blitzte mit einem Mal Entschlossenheit auf.
    »Tu ich doch. Sie werden mich nicht abhalten.«
    Gero ließ die Hand sinken. Er sah zu Boden. Vergib mir, Herr, dachte er, vergib mir. Trixi stand auf und musste, wenn sie nicht über ihn hinübersteigen wollte, durch die ganze lange Bankreihe auf die andere Seite gehen, um die Kirche zu verlassen. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er holte tief Luft und blies mit einem einzigen kurzen Atemstoß die Kerze aus.

Fünfzig
    Was hatte ihr die Kraft gegeben, diesen Weg zu gehen? Als Nico hinter den Baumwipfeln zum ersten Mal Schattengrund erkannte, ging die Sonne in ihrem Herzen auf. Vielleicht hatte sie die Strecke geschafft, weil es bergab ging. Vielleicht auch, weil Maik ihr immer wieder Karamellbonbons zusteckte und das Klirren seines Gürtels wie die Rüstung eines mittelalterlichen Soldaten klang, der sie alle beschützen würde. Vielleicht, weil Leon vorangegangen war und sie in seine Fußstapfen treten konnte. Immer wieder hatte er sich nach ihr umgesehen, sie gefragt, ob sie es schaffen würde, ihr die Hand an besonders gefährlichen Stellen gereicht oder ihr einfach ein aufmunterndes Lächeln geschenkt. Ja, es musste dieses Lächeln gewesen sein, das sie den ganzen Abstieg lang getragen hatte.
    »Wir sind da!«, jubelte sie.
    Das Gelände war nicht mehr so steil. Leon, der wieder ein paar Schritte voraus war, blieb stehen, um auf sie zu warten. Der Gedanke an heißen Tee, prasselndes Feuer und Minx, die sich an sie kuscheln würde, saugte Nico beinahe die letzte Kraft aus den Knochen.
    »Das war großartig«, sagte er. »Wir bringen dich noch ins Haus.«
    »Wir müssen uns alle erst mal aufwärmen.«
    Er antwortete nicht und lief weiter. Nach ein paar Minuten hatten sie Kianas Grundstück erreicht – den Waldsaum, der sich an das flach abfallende Gelände schmiegte. Das Haus lag still und friedlich da, ein bisschen verwunschen, tief verschneit, und zum ersten Mal hatte Nico das Gefühl heimzukommen.
    Im Vergleich zu der beißenden Kälte im Freien war es drinnen mollig warm. Die Wanderer hielten sich nicht damit auf, die Stiefel abzuklopfen. Die drei stürmten gleich in die Küche, wo Nico als Erstes den Wasserkocher in Betrieb nahm. Dann ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen, dass es krachte.
    »Zu Hause. Ich glaube es nicht.«
    Maik setzte sich auch, Leon blieb stehen. Er sah auf seine Uhr.
    »Es ist gleich fünf Uhr morgens. Ich gehe in den Schwarzen Hirschen, wecke alle und rufe dann die Polizei.«
    »Ich komme mit«, sagte Nico schnell.
    Aber Leon schüttelte entschlossen den Kopf. »Sorry, aber du legst dich ins Bett und ruhst dich aus. Und du«, er wandte sich an Maik, »musst ins Krankenhaus. Kann man hier irgendwo telefonieren?«
    »Vom Dachboden«, sagte Nico. »Bist du jetzt mein Pfleger oder was? Natürlich gehe ich mit. Das geht mich genauso viel an wie dich.«
    Der Wasserkocher schaltete sich aus. Nico wuchtete sich hoch und hatte das Gefühl, ihre Beine wären aus Beton.
    »Da reden wir noch mal drüber.«
    Leon verließ die Küche. Sie hörte, wie er die Stufen hinauflief. Maik legte die Arme auf den Tisch und bettete seinen Kopf darauf. Er sah erbarmungswürdig aus.
    »Tee?«, fragte sie.
    Er grunzte nur. Noch bevor Nico drei Becher aus dem Regal geholt hatte, war das Grunzen in Schnarchen übergegangen. Sie

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