Schattengrund
dem Baum. Er kam auf sie zu.
Nico rannte los. Der Mann auch. Sie raste um die Ecke, rutschte beinahe aus, fing sich gerade noch und hechtete auf den Hintereingang zu, da hatte er schon das halbe Grundstück überquert. Er war groß und massig. Als er sah, dass sie die Tür erreichte, fing er an zu rennen. Sie rüttelte an der Klinke, aber die verflixte Tür hatte sich verklemmt und ließ sich nicht öffnen. Sie hörte seine Schritte, das Keuchen seines Atems, und in letzter Sekunde riss sie die Tür auf, schnellte hinein und warf sie zu.
Der Aufprall seines Körpers war so stark, dass das alte Holz ächzte. Nico ließ die Überreste ihres Besens fallen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Riegel und schob ihn vor. Keine Sekunde zu früh, denn er rüttelte an der Klinke und warf sich gegen die Tür. Nico stemmte sich von der anderen Seite mit aller Kraft dagegen und betete, dass das morsche Holz diesem Angriff standhielt.
»Was wollen Sie?«, schrie sie. Ihre Stimme kippte fast vor Angst.
Noch einmal rammte der Angreifer die Tür mit vollem Körpereinsatz. Der Rahmen bebte.
»Hauen Sie ab! Ich bin bewaffnet!«
Stille.
»Verschwinden Sie von meinem Grund, kapiert?«
Nur ihr eigener, fliegender Atem war zu hören. Nico lauschte. Sie hörte, wie schwere Schritte durch den Schnee stapften und sich entfernten. Langsam ließ sie ihre Tasche von der Schulter gleiten und schlich durch den Flur ins Wohnzimmer. Die Gardinen waren zugezogen. Vorsichtig schob sie den Stoff ein paar Millimeter zur Seite und spähte hinaus.
Der Vorgarten lag still und verlassen da. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Vielleicht lauerte er ihr noch einmal auf? Die Minuten verstrichen. Als sich immer noch nichts rührte, wagte sie es, in die Küche zurückzugehen und dort aus dem Fenster zu sehen.
Fußspuren im Schnee führten zurück in den Wald. Von dort her war er also gekommen und dorthin war er auch verschwunden. Sie überprüfte die Hintertür, schloss auch noch von innen ab und untersuchte danach den Vordereingang. Zwei Riegel, oben und unten, und das Schloss. Eigentlich war Schattengrund gesichert.
»Minx?«
Aber die Katze tauchte nicht auf.
»Minx? Wo bist du?«
Wahrscheinlich hatte sie der versuchte Überfall genauso erschreckt und sie hatte sich ein ruhiges Plätzchen irgendwo im Haus gesucht. Nico klopfte sich den Schnee von den Kleidern und hielt die Hände an den Kachelofen. Er wurde warm. Langsam hörte auch das Zittern auf, das ihr der Schreck in die Glieder gejagt hatte.
Vielleicht hatte der Mann nur nach dem Rechten sehen wollen? Oder er hatte geglaubt, sie wäre ein Einbrecher. Siebenlehen war ein kleines Dorf. Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet hier einem Gewaltverbrecher über den Weg zu laufen, war äußerst gering.
Um sich abzulenken, nahm sie ihre Reisetasche und den Besen und ging die Treppe hinauf. Zwei Zimmer gab es hier oben unterm Dach – Kianas Schlafzimmer und das Gästezimmer. Nico ging als Erstes in den Raum, der ihrer Großtante gehört hatte. Ein altmodisches Bett mit einer Spitzendecke stand direkt unter dem Fenster. Daneben ein Nachttisch, an der gegenüberliegenden Wand der Wäscheschrank. Nico öffnete ihn. Ein Hauch von Lavendelduft drang in ihre Nase. Kianas wenige Kleider hingen, in Folie verpackt, auf der Stange. In den Fächern lagen, ordentlich gebügelt und zusammengefaltet, Bettlaken und Bezüge. Dazu ein Stapel flauschige Handtücher. Nico zog eines heraus und roch daran.
Sommer. Blumen. Schmetterlinge tänzeln über einer Wiese. Karamellisierter Zucker brodelt in einem Kupferkessel – sie kochen Marmelade. Nico steht auf einem Stuhl. Sie ist barfuß, ihr Kleidchen aus dünnem Baumwollstoff reicht gerade bis an die Knie. Vorne ist eine Tasche aufgenäht – sie sieht aus wie ein umgekippter Halbmond. In ihr sammelt sie, was ihr der Sommer schenkt: Blüten, Baumrinden, kleine glitzernde Steine …
Steine.
Nico warf ihre Tasche auf Kianas Bett und wühlte so lange in ihren Sachen herum, bis sie das Gesuchte endlich gefunden hatte. Den Stein. Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sie sich und betrachtete ihn. An manchen Stellen schimmerte er silbern. Wollte Kiana sie an die Ferien erinnern, die sie hier verbracht hatte?
Sie nahm das Handtuch mit hinüber in das andere Zimmer. Es war kleiner und hatte schräge holzverkleidete Wände. Vor dem Fenster stand ein runder Tisch. Und darauf eine Kristallschüssel mit – Karamellbonbons.
Nicos mühsam bewahrte Haltung bröckelte
Weitere Kostenlose Bücher