Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
Vom Netzwerk:
endgültig. Erst schob sie es auf den Schock, den die Beinahe-Begegnung mit dem brutalen Unbekannten in ihr ausgelöst hatte. Dann merkte sie, dass mehr dahintersteckte. Mit Tränen in den Augen verstaute sie ihre Sachen in dem kleinen Einbauschrank unter der Dachschräge. Kiana hatte das Haus hergerichtet, als ob ihre Nichte gleich wieder zu Besuch kommen würde. Sie hatte zwölf Jahre auf sie gewartet, bis zu ihrem Tod. Was hatte ihre Hoffnungen so enttäuscht? Und wer lauerte ihr in der Dunkelheit auf, um sie bis zur Haustür zu verfolgen? Noch einmal spähte sie aus dem Fenster, aber die tief verschneiten Straßen lagen still und verlassen.
    Schließlich war Nico fertig. Täuschte sie sich oder wurde es langsam auch im ganzen Haus warm? Sie entdeckte die kleine Öffnung neben der Tür. Hinter ihr verborgen lag eine Messingklappe, aus der warme Luft ins Zimmer strömte. Nico lächelte. Wenigstens würde sie nicht erfrieren in dieser Nacht.
    Sie sah sich um. Wo waren ihre Hausschuhe? Sie kippte die leere Tasche um, suchte in Kianas Zimmer, lief die Treppe hinunter und inspizierte Flur, Küche und Wohnzimmer. Die Schuhe blieben verschwunden. Sollte sie noch einmal hinaus und nachsehen?
    Bloß nicht. Trotzdem lief Nico hinunter und öffnete, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass niemand im Gebüsch des Vorgartens lauerte, vorsichtig die Tür.
    »Minx?«, rief sie leise. »Minx, wo bist du?«
    Aber die Katze antwortete nicht.
    »Minx, ich mache jetzt eine Dose Erbsen und Möhren warm. Die esse ich. Allein, wenn du nicht kommst.«
    Sie lauschte. Kein Laut, kein Geräusch. Und auf einmal stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Sie fühlte, dass sie beobachtet wurde. Nico blickte in die Dunkelheit, die sich über den kleinen Ort da unten gelegt hatte. Und sie wusste – irgendjemand sah zurück.

Sechs
    Er trug die Hausschuhe an den Händen und ließ sie auf dem Fensterbrett tanzen. Einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer.
    Bärchenhausschuhe. So weich. So niedlich. So warm. Er stellte sich vor, wie sie darin tanzen würde. Hoch auf die Fußspitzen, dann eine Drehung, der zarte Rock spielte um ihre Beine, sie lächelte ihn an.
    Er ließ die Hände sinken. Keine hundert Meter entfernt lag Schattengrund. Das Haus sah anders aus als in den letzten Wochen. Eine kleine Rauchfahne kräuselte sich über dem Schornstein. Licht fiel durch die Ritzen der Fensterläden. Die alte Hexe war tot. Jetzt war die junge da.
    Die Treppe knarrte. Er hörte Schritte, die vor seiner Tür verharrten. Ein böses, hartes Klopfen, dann wurde die Klinke hinuntergedrückt. Er hatte abgeschlossen. Er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher.
    »Mach auf!« Die Stimme einer Frau, hoch und schneidend. Sie kroch in seine Ohren wie ein widerliches Insekt. Er stand da, erstarrt und unfähig, sich zu rühren.
    »Hundertmal hab ich dir gesagt, zieh die Schuhe aus, wenn du von draußen reinkommst! Alles hast du eingesaut! Und wer wischt es wieder weg? Wer?«
    »Ich mach schon.«
    »Wann?«
    »Gleich!«
    »Und was ist mit den Kohlen?«
    Die Schritte entfernten sich. Er sah hinunter auf seine Hände – Bärchenhände. Wütend streifte er die Hausschuhe ab und warf sie unter seinen völlig zugemüllten Schreibtisch. Er nahm seine Winterjacke und den schweren Gürtel vom Stuhl, ging zur Tür, drehte den Schlüssel um und verließ sein Zimmer.
    Vor dem Fenster trocknete eine Lache geschmolzenen Schnees. Und ein Klirren begleitete seine Schritte.

Sieben
    Nico träumt.
    Sie läuft durch den Schnee, so schnell, als würde sie fliegen. Ihr Lachen klingt hinein in den Wald und bis zum Berg hinauf, es kehrt als Echo wieder.
    Ein Mädchen steht auf der anderen Seite des Hangs und sieht zu ihr hinüber. Erst glaubt Nico, das wäre sie selbst. Doch je näher sie kommt, umso heller wird das Kind. Es hat gold sprühende Haare und Augen, so grün wie ein glasklarer See. Seine Haut ist hell, fast weiß. Es hat Schneeflocken in den Haaren und es hält einen Besen in der Hand. Sie will das Wesen berühren, von dem sie glaubt, dass es eine Elfe sein muss oder eine Fee. Ein überirdisches Leuchten geht von ihm aus, mit nichts vergleichbar, was Nico je gesehen hat.
    Traust du dich?
    Jäh tut sich ein Abgrund auf, bodenlos. So schnell wie ein Riss in einem Kleid aus weißer Seide.
    Wir können fliegen , sagt das Mädchen. Wir sind Winterhexen.
    Es schwingt sich auf den Besen, stößt sich ab und springt.
    »Nein!«, schreit Nico.
    Ein dumpfer, fürchterlicher

Weitere Kostenlose Bücher