Schattengrund
grinste, als wäre ihm gerade der Durchbruch des St. Gotthard-Tunnels gelungen. »Was?«
»Ob das schon immer so war.«
Er zuckte mit den Schultern, und Nico musste sich eingestehen, dass ihre Fragen vielleicht ein wenig zu persönlich waren. Schließlich kannten sie sich kaum. Auch wenn er sie vor dem Erfrieren und Verhungern gerettet hatte und keines der drei B’s noch einmal erwähnt hatte. Gemeinsam gingen sie zurück in die Gaststube und stellten die Stühle wieder hoch.
»Warum ist das Hotel denn geschlossen?«, fragte sie.
»Zu wenig Gäste. Siebenlehen liegt ziemlich ab vom Schuss. Man müsste eine Menge Geld investieren, um das Haus attraktiv zu machen. So ist es einfach ein in die Jahre gekommenes Hotel. Früher war hier echt mal was los. Da mussten sogar wir Kinder ran. In den Sommerferien habe ich oft ausgeholfen.«
Nico nahm das Foto der Prozession vom Tisch und hängte es wieder an seinen Nagel.
»Aber der Hype hat nicht lange angehalten. Die Feriengäste wollten mehr Komfort und Infrastruktur. Viele aus dem Dorf sind dann weggezogen«, fuhr Leon fort. »Oder sie arbeiten in den größeren Städten und kommen nur noch am Wochenende her. An Siebenlehen kann man ziemlich gut ablesen, wie eine Gegend den Aufschwung erlebt – und den Niedergang.«
Irgendwo im Haus schlug eine Tür und aus irgendeinem Grund machte das Leon nervös. Wahrscheinlich war sie ihm schon viel zu lange auf die Nerven gefallen.
Nico nahm ihre Jacke und schlüpfte hinein. »Ich muss los«, sagte sie, ohne zu wissen, warum und wohin.
»Sag Bescheid, wenn du was brauchst.«
Er begleitete sie in den Flur, der mit hässlichen blassgelben Fliesen gekachelt war. Ihr fiel ein, dass Leon ihr neben seinen wertvollen Versorgungstipps vielleicht auch bei einer anderen Sache helfen könnte. »Du hast gesagt, du kennst dich aus.«
Leon nickte. »Na ja, geht so.«
»Ich suche einen Ort, um einen Stein zurückzubringen. Vielleicht in einen alten Stollen.«
»Einen … Stein?«
»Ja. Er schimmert so.«
»Silbererz?«
»Könnte sein.«
Er sah sich vorsichtig um, als ob die Kacheln Ohren hätten. »Lass das lieber bleiben«, sagte er leise.
»Warum?«
»Weil …«
Polternde Schritte kamen eine Treppe hinunter. Nico drehte sich um und sah einen kräftigen Mann, Anfang Fünfzig vielleicht, in ausgebeulten Jogginghosen und einem verpillten Pullover. Er hatte ein rotes Gesicht mit Halbglatze und einen Stiernacken. Die kleinen, dunklen Augen verengten sich noch mehr, als er Nico sah.
»Wer ist das?«
»Dein geliebter Neffe«, antwortete Leon, der sich wie unbeabsichtigt vor Nico stellte. »Falls meine unwürdige Anwesenheit dir entfallen sein sollte.«
Der Mann schnaubte. »Red nicht so geschwollen. Die da meine ich. Beim Bäcker sagen sie …«
Er trat ein paar Schritte näher. Nico wurde unbehaglich. Sie konnte den Mann riechen – er roch nach schalem Bier und Zigaretten. Und dazu nach etwas, das verschwand, wenn man seine Klamotten öfter mal in die Waschmaschine steckte.
Er hob den Arm und schob Leon mit seiner Pranke zur Seite.
»… die Kleine von Kiana wäre wieder da? Bist du das?« Er musterte sie von oben bis unten.
Nico straffte die Schultern. »Kiana war meine Großtante, ja.«
»Raus.«
Leon schaltete sich ein. »Sie ist mein Gast. Also reiß dich bitte am Riemen.«
»Hier gibt es keine Gäste mehr. Der Schwarze Hirsch ist geschlossen.« Der Mann ging zur Tür und hielt sie auf. Ein Schwall eiskalter Luft drang herein. »Aber man sagt, du machst es dir in Schattengrund schon richtig gemütlich.«
Nico versuchte vergeblich, sich so weit von ihm entfernt wie möglich ins Freie zu mogeln.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Irrtum. Nicht ich. Ganz Siebenlehen.«
Nico wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da geschah etwas Seltsames. Der Mann schaute an ihr vorbei zu etwas, das sich hinter ihrem Rücken abspielen musste. Sein Gesichtsausdruck verlor jede Überheblichkeit. Nico drehte sich um. Die Tür gegenüber des Gastraumes hatte sich geöffnet. Leon war verschwunden. Der Mann achtete nicht mehr auf Nico. Er ließ die Außentür los, die laut ins Schloss fiel, und ging in das Zimmer. Unschlüssig stand Nico da, dann überwog die Neugier.
Sie lugte um die Ecke. Der Raum lag im Halbdunkel, die Gardinen waren zugezogen. Sie erkannte eine Anrichte in Gelsenkirchener Barock, davor eine Couchgarnitur mit einem niedrigen Tisch, auf dem sich Lesezirkel-Zeitschriften stapelten. Leon stand hinter einem
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