Schattengrund
»Mit Milch, wenn’s geht« hinterher.
Sie steckte den Kanten in den Mund, kaute und sah sich um. Leon verschwand in einem Raum, der wohl die Gaststube gewesen war. Die Stühle waren allesamt hochgestellt. An den holzgetäfelten Wänden hingen Geweihe und Schützenscheiben.
»Geht auch Kaffeesahne?«
Der Ruf kam aus der Küche hinter einem lang gezogenen Tresen. Nico folgte ihm und fand sich in einem sauber gekachelten Raum inmitten von stahlblanken Herden und Spülen wieder. Hinter der geöffneten Tür eines gewaltigen Kühlschranks tauchte Leon auf. Er hielt triumphierend ein Milchkännchen in der Hand.
»Alles da für die Lady.«
Die Lady steckte sich noch ein Stück Brot in den Mund.
»Willst du Käse? Wurst? Ich kann dir auch ein Spiegelei mit Speck machen.«
Sie nickte eifrig.
Wenig später brutzelten die Eier in der Pfanne. Leon beobachtete den Vorgang mit gerunzelter Stirn, dann nahm er zwei Teller von einem Stapel über der Spüle und verteilte den Inhalt der Pfanne darauf.
»Hier.«
Nico klemmte sich das fast zur Hälfte geschrumpfte Baguette unter den Arm und nahm die Teller. Leon holte Besteck aus einem Kasten, stellte zwei Tassen unter eine Kaffeemaschine und drückte einen Knopf.
»Geh schon mal rüber.«
In der Gaststube suchte sie einen Tisch am Fenster aus und nahm die Stühle herunter. Bevor sie sich setzte, nahmen einige gerahmte Fotografien ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Es waren Aufnahmen vom Schwarzen Hirschen. Uralte, vergrößerte Postkarten vom Anfang des vorigen Jahrhunderts: ein Pferdefuhrwerk, das frisch geschlagene Baumstämme transportierte. Stolz saß der Kutscher auf seinem Bock, die Peitsche in der Hand, und dahinter konnte Nico den Eingang zum Wirtshaus erkennen.
Eine Straßenszene. 30er-, 40er-Jahre vielleicht. Es musste Sommer sein, vor dem Schwarzen Hirschen standen Biertische und zierliche Klappstühle, eine kräftige Frau mit weißer Schürze stemmte mehrere Krüge in jeder Hand.
Eine Prozession. Winter. Die grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte Ministranten, die eine Holzfigur trugen. Dahinter hatte sich das halbe Dorf eingereiht. Fünfzigerjahre? Die Frauen trugen weite, dunkle Röcke und einen Kopfputz, der aussah wie ein umgedrehter Blumentopf und von einem langen schwarzen Band gehalten wurde. Die Männer hatten sich in weiße Mäntel geworfen und runde, flache Hüte aufgesetzt – offenbar die Tracht von Siebenlehen.
»Das ist die Prozession der heiligen Barbara.«
Leon kam zu ihr und reichte ihr einen Becher mit Kaffee. Nico schloss kurz die Augen und schnupperte.
»Eine meiner frühesten Erinnerungen«, sagte sie. »Frisch gebrühter Kaffee, wie er nur an einem kalten Morgen duftet. Danke.«
Sie trank einen Schluck und deutete auf das Foto. »Von wann ist das?«
Leon nahm es herunter und drehte es um. »Neunzehnhundertneunundvierzig. Ein alter Brauch, der sich bis heute gehalten hat. Jedes Jahr am vierten Dezember holen wir die heilige Barbara aus der Kirche und tragen sie durchs Dorf. Sie ist die Schutzpatronin der Bergleute. Und der Gefangenen. Und der Schlesier.«
»Der Schlesier?«
Nico ging zum Tisch und setzte sich. Leon folgte ihr.
»Der Geologen, der Architekten, der Glöckner, der Sterbenden … Sie hat eine Menge zu tun, die Gute. Hier im Harz ist sie allerdings definitiv für die Bergleute im Einsatz.«
»Aber es gibt doch so gut wie keinen Bergbau mehr hier.«
»Stimmt.« Leon schob ihr einen Teller hinüber und machte eine Geste, die sowohl Fang-endlich-an-bevor-es-kalt-wird wie auch Guten-Appetit heißen konnte. »Aber jahrhundertelang hat er unser Leben bestimmt und geprägt. Morgen kannst du dich selbst davon überzeugen. Falls das Wetter der Prozession keinen Strich durch die Rechnung macht. Es soll ein Sturmtief im Anmarsch sein.«
Nico nahm den ersten Bissen und musste sich beherrschen, Eier und Speck nicht gleich mit den Händen in den Mund zu stopfen. Sie war so ausgehungert, dass sie kaum darauf achtete, was Leon erzählte.
»Siebenlehen ist durch Silber reich geworden. Aber das ging schon vor über hundert Jahren langsam zu Ende. Dann, in den 30er-Jahren, kam das Uran. Das war rentabler. Die Nazis brauchten es und die DDR brauchte es erst recht. Aber im Gegensatz zum Erzgebirge gab es im Harz keine nennenswerten Vorkommen. Sie haben gesucht und den halben Berg durchlöchert, aber nichts gefunden. – Schmeckt’s?«
Nicos Teller war fast leer, während Leon noch gar nicht angefangen hatte.
»Äh, ja.« Sie brach
Weitere Kostenlose Bücher