Schattengrund
ein Stück Baguettebrot ab. »Das heißt, es gibt viele alte Stollen hier?«
»Der Berg ist wie Schweizer Käse. Manche sagen, es gab zu DDR -Zeiten sogar Geheimgänge in den Westen. Ich weiß es nicht. Unsere Familie ist ja kurz vor dem Mauerbau ausgewandert.«
»Wie kam das?«
»Durch meinen Großvater. Eigentlich hätte er den Schwarzen Hirschen übernehmen sollen. Aber er war jung und wollte was sehen von der Welt. Wir Geologen sind eben neugierig. Wir wollen immer zum Kern vordringen. Zum Wesentlichen.«
Er brach ein Stück Brot ab, dabei sah er sie an. Nico spürte zu ihrem Entsetzen, dass sie rot wurde.
»Warm hier«, nuschelte sie.
Leon grinste. Er hatte seine widerspenstigen Haare im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug ein offenes kariertes Holzfällerhemd und ein graues T-Shirt darunter, das sich eng an seine Brust schmiegte. Er musste Sport treiben oder als angehender Geologe hauptsächlich Steine klopfen, denn er sah ziemlich gut trainiert aus. Die Ärmel hatte er halb hochgekrempelt. Ihr fiel auf, dass die Härchen an seinen Unterarmen heller waren, fast blond. Seine Hände waren schmal, aber kräftig. Sie stellte sich vor, wie er mit ihnen eine Axt führen würde, um Holzscheite in wunderschöne kleine kaminofentaugliche Stücke zu schlagen.
»Was?« Sie fuhr hoch.
»Ob du noch was willst.«
Er wies auf ihren leeren Teller. Siedend heiß wurde Nico bewusst, dass die Einzige, die sich hier wie ein Holzfäller benahm, sie selbst war. Zumindest aß sie, als ob es kein Morgen gäbe.
»Nein, danke. Ich will noch mal rüber in den kleinen Laden. Vielleicht bekomme ich dort ja was zu essen.«
Sein Mund verzog sich bedauernd. »Der hat samstags zu.«
Nico konnte ihre Bestürzung schlecht verhehlen. »Dann … Wann fährt denn der Bus nach Altenbrunn? Vielleicht gibt es da einen Supermarkt.«
»Wohl kein Radio gehört heute Morgen, was?« Er schob die Teller zusammen und stand auf. »Wir sind eingeschneit.«
»Bitte?«
»Die Räumfahrzeuge kommen nicht durch. Mehrere alte Bäume sind unter der Schneelast zusammengebrochen und haben die Straße versperrt. Sie brauchen schweres Gerät aus Halberstadt. Aber bis das hier ist …«
Nico stand auf und folgte ihm in die Küche. »Und der Weg, den wir gekommen sind?«
»Heute Nacht sind fünfzig Zentimeter Neuschnee gefallen. Und für den Nachmittag sagen sie mindestens das Doppelte voraus. Das schafft kein Jeep mehr.«
»Das heißt, es kommt keiner mehr rein nach Siebenlehen?«
Leon grinste und öffnete die Vorderluke der Geschirrspülmaschine. »Und keiner mehr raus.«
»Oh.«
Öl. Mehl. Haferflocken. Das konnte ja heiter werden.
»Entnehme ich diesem hingehauchten Klagelaut, dass ein gewisser Versorgungsengpass besteht?«
Sehr witzig. Nico reichte ihm die Teller, die er sorgfältig einsortierte.
»Ich brauche Katzenfutter.«
»Echt? Du stehst auf Kitekat?«
Nico verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. »Nur am Wochenende. Da gönne ich mir mal was.«
»Vielleicht kriegst du was bei Krischeks. Da musst du sowieso hin, wenn du Kohlen brauchst.«
»Katzenfutter beim Kohlenhändler?«
»Du wirst erstaunt sein, was es wo in Siebenlehen gibt.«
»Wohl eher was und wo für wen«, entgegnete Nico. »Brot beim Bäcker gab es für mich jedenfalls nicht. Warum eigentlich?«
Nico wusste, dass Anfänge nicht ihre Stärke waren. Aber so unfreundlich wie hier war sie noch nie irgendwo empfangen worden. Leon, der die Tür der Spülmaschine schließen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne.
»Das ist … schwierig.«
»Ist es wegen Kiana?«
»Möglich.«
»Aha. Vielleicht kann mir das mal einer erklären. Offenbar hat Kiana verbrannte Erde hinterlassen, wo immer sie aufgetaucht ist.«
Leon drückte die Tür zu und betrachtete die Knöpfe samt Programmauswahl, als wären sie Hieroglyphen. »Sie war wohl nicht sehr beliebt«, murmelte er und fuhr mit dem Zeigefinger über die verschiedenen Einstellungen. »Mehr weiß ich auch nicht. – Wie funktioniert das denn?« Er drückte einen Knopf.
»Hast du sie gekannt?«
»Nein. Eigentlich nicht. Ich komme nicht mehr oft her. Alle reden zwar davon, wir wären eine Familie. Aber Fakt ist: Ich habe mit Siebenlehen nicht viel am Hut. Ich bin auch ein Fremder. Ich habe nur im Gegensatz zu dir einen Stammbaum, der es ihnen schwer macht, mich zu ignorieren.« Er wich ihrem Blick aus und drehte an einem Schalter.
»War das schon immer so?«
Die Geschirrspülmaschine startete. Leon
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