Schattengrund
nicht.«
»Hallo? Du bist der Einzige, der normal mit mir redet. Alle anderen schlagen mir die Tür vor der Nase zu, setzen mich an die Luft oder verfluchen mich bis ans Ende meiner Tage.«
»Ich bin nicht von hier.«
»Ah ja. Verstehe, Fremder. Aber warum darfst du dir in geheizten Häusern warme Mahlzeiten zubereiten, während man mich verhungern lässt?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich gehöre irgendwie zum Schwarzen Hirschen. Das heißt, ich bin für die Leute nicht so angsteinflößend wie du.«
»Ich? Angsteinflößend?«
Nico hätte am liebsten laut gelacht, wenn die ganze Geschichte nicht so einen bösen Beigeschmack gehabt hätte. Auch wenn sie nicht ans Fluchen glaubte – ans Segnen tat sie das in gewisser Weise schon. Und waren beide Handlungen nicht zwei Seiten einer Medaille?
»Warum haben sie Angst vor mir? Ich tue doch niemandem etwas. Ich will nur in Frieden Kianas letzten Willen erfüllen.«
»Was ist das für ein Wille?«
Sie schwieg. Sie kannte Leon nicht. Aber er wusste schon eine ganze Menge von ihr, zum Beispiel, dass sie Katzenfutter brauchte, soeben verflucht worden war und nachts verschneite Wanderwege als Abkürzung nahm. Nico glaubte, dass es damit vielleicht genug wäre. Ihm jetzt noch mit Kianas Rätseln zu kommen, würde sie in seinen Augen bestimmt endgültig zum Freak mutieren lassen.
»Sag mir lieber, warum Kiana hier für alle ein rotes Tuch ist.«
Leon steckte die Hände in die Hosentaschen. Er hatte in aller Hektik seine Jacke gegriffen, als er ihr nachgestürzt war, aber an Handschuhe hatte er nicht gedacht. Es war bitterkalt, der Atem schwebte wie flüchtiger weißer Rauch in der Luft. Die Sonne war nur noch eine milchige Scheibe an einem dunstigen Himmel. Das Wetter änderte sich.
»Sie hat sich wohl sehr abgesondert von den anderen.«
»Aber das ist doch kein Verbrechen. Vor allem nicht, wenn man so behandelt wird!«
»Du hast recht. Aber da war noch mehr.«
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Über solche Dinge reden sie hier nicht. Und ich hatte bisher auch keine Veranlassung, danach zu fragen. Du hast einfach ein paar Leute durcheinandergebracht, mehr nicht. – Da vorne kriegst du alles, was du brauchst.«
Er wies auf ein großes, glatt verputztes Haus mit einem angrenzenden Schuppen, der wohl ursprünglich als Doppelgarage gedacht war. Die Tore standen offen, und im Inneren stapelten sich Gasflaschen, Autoreifen, Brennholz, Benzinkanister und in die Jahre gekommene Maschinen und Generatoren.
»Danke.« Nico lief darauf zu, Leon folgte ihr. Vor dem Eingang blieb sie stehen. »Das schaffe ich jetzt auch ohne deine Hilfe.«
Wieder steckte er seine Hände in die Hosentaschen. Ein bisschen sah er aus wie ein großer Junge, der gerade einen Fußball durch ein Nachbarsfenster geschossen hatte.
»Ich glaube nicht«, sagte er.
Ihr Handy klingelte. Ohne zu überlegen, nahm sie den Anruf an.
»Nico?« Ein Aufstöhnen der Erleichterung drang an ihr Ohr und genau dieses Geräusch kannte sie nur zu gut. Vor Schreck hätte sie das Handy beinahe in den Schnee fallen gelassen.
»Äh … Mama?«
Wie dämlich war sie eigentlich? Fehler Fehler Fehler. Ihr Begleiter ging durch das offene Garagentor und tat, als ob er diskret weghören würde.
»Wo steckst du?« Stefanie schien außer sich. Nach der Erleichterung kam blitzschnell der Ärger. Nico kannte das, hatte es aber glücklicherweise nicht oft erleben müssen. »Seit gestern Abend versuche ich, dich zu erreichen! Du musst nach Hause kommen. Deinem Vater geht es schlecht.«
»Was? Was hat er?«
»Die Ärzte haben ihn zur Beobachtung ins Krankenhaus einliefern lassen. Es bestand Verdacht auf Herzrythmusstörungen. All die Sorgen und der Ärger in letzter Zeit … Es geht ihm gut, wirklich. Ein Fehlalarm, ein Warnschuss. Aber es wäre schön, wenn du ihn besuchen würdest. Das würde ihn etwas aufmuntern.«
Es klang, als ob Stefanie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten könnte. Das schlechte Gewissen blähte sich in Nico auf wie ein Luftballon. Sie fühlte sich schlagartig schuldig. Wie in Trance folgte sie Leon in die Garage, wich einer alten Öllache aus und trat auf Glassplitter.
»Ich komme. So schnell ich kann.«
»Ich gönne dir ja dein Wochenende mit deiner Freundin. Aber sie wird bestimmt Verständnis haben.«
»Ich muss dir was sagen …«
Der Empfang verschlechterte sich. Nico lief wieder hinaus auf den Bürgersteig.
»Mama?«
»… kannst du kommen? … bin heute
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