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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Rollstuhl, in dem eine uralte Frau saß. Sie war so alt, dass sie fast durchsichtig wirkte, und Nico fürchtete, dass jeder Blick, der sie traf, sie zu Staub zerfallen lassen könnte. Die wenigen schlohweißen Haare, die sie noch hatte, waren zu einem kleinen Knoten im Nacken zusammengezwirbelt. Sie musste dünn sein wie Papier und knochig wie ein abgenagter Fisch, denn das Wollkleid, das sie trug, schlug tiefe Falten.
    Sie hob den kleinen Kopf, schmal wie ein Vogel, und sah Nico mit trüben hellen Augen an. »Kiana?«
    Die Stimme war hoch und dünn und so heiser, dass Nico sich am liebsten stellvertretend geräuspert hätte. Leon machte eine schnelle Handbewegung. Damit wollte er wohl sagen, dass sie verschwinden sollte. Nico machte einen unsicheren Schritt zurück.
    »Nein, ich …«
    »Das ist nicht Kiana«, sagte Leon leise.
    Die alte Frau schaute Nico noch genauer an. Sie schien gar nicht darauf zu achten, was Leon gesagt hatte. Sie hob die Hand und winkte den Überraschungsgast näher heran. Nico blieb wie angewurzelt stehen.
    »Kiana?«, wiederholte die geisterhafte Gestalt. Ihre Stimme klang jetzt kräftiger, als ob sie noch einmal alle Reserven aktiviert hätte. »Hör dir an, was ich dir zu sagen habe. Du bist verflucht bis ans Ende deiner Tage. Du sollst in der Hölle schmoren, du und deine Brut. Dich soll der Teufel holen, du sollst ertrinken in einem See aus Tränen und Blut!«
    Nico drehte sich um, stolperte in den Flur und rannte hinaus auf die Straße.
    »Tränen und Blut!«, schrie die Frau hinterher. »Tränen und …«
    Jemand brüllte: »Herrgott! Sei still! Kiana ist tot, hörst du? Tot!«
    »Nico!«
    Sie presste die Hände auf die Ohren und lief los. Aber der Schnee ließ sie bei jedem Schritt einsinken. Auf der Mitte der Kreuzung blieb sie, nach Atem ringend, stehen.
    »Nico!«
    Sie stapfte weiter. Aber Leon war entweder schneller oder er kam im Schnee besser voran. Er holte sie ein und hielt sie am Arm fest.
    »Nico …«
    »Lass mich los!«, fauchte sie.
    Er hob die Hand, als hätte er sich an ihr verbrannt. »Es tut mir leid. Das war Zachs Großmutter, meine Uroma. Sie ist nicht mehr ganz –«
    »Zach? Wer zum Teufel ist das? Dieser Rüpel, der mir unmissverständlich klargemacht hat, dass ich hier nicht willkommen bin? Wahrscheinlich war er das, der mich gestern zu Tode erschreckt hat!«
    »Wie meinst du das?«
    »Ach nichts«, erwiderte sie. »Jemand ist nachts ums Haus geschlichen.«
    »Zach? Hast du ihn erkannt?«
    »Nein! Ich … Was ist hier eigentlich los?«
    Leon sah sich um. Eine Kundin, schwer beladen mit Brottüten – Nico wollte nicht daran denken, was alle außer ihr nach Hause schleppen durften –, kam aus der Bäckerei und warf ihnen einen irritierten Blick zu. Nico war das egal.
    »Wahrscheinlich sind alle ein bisschen durcheinander«, sagte er in einem vergeblichen Versuch, sie zu beschwichtigen.
    »Ein bisschen ist gut! Diese Frau da drinnen ist ja wohl auch nicht mehr ganz dicht, oder? Man muss mir nicht den roten Teppich ausrollen, das bin ich eh nicht gewöhnt. Aber Tränen und Blut, schönen Dank. Und, was war das noch mal? Der Teufel soll mich holen, damit ich in der Hölle schmore?«
    »Sie meinte nicht dich.«
    Die Kundin aus der Bäckerei war wie angewurzelt stehen geblieben. Eine zweite kam heraus. Sie trug mehrere Tortenkartons. Die mit dem Brot zischelte der mit den Torten etwas zu. Beide glotzten hinüber, als wäre das hier ganz großes Kino.
    »Ach ja? Tut mir leid. Aber ich bin nun mal Kianas Brut. Nicht in direkter Linie, aber um drei Ecken. Das enttäuscht jetzt hoffentlich niemanden, aber beim Verwünschen wird man wohl auf solche Kleinigkeiten nicht achten!«
    »Komm.«
    Er wollte wieder nach ihr greifen, aber sie riss sich wütend los.
    »Komm mit«, sagte er leise. »Nicht hier. Und nicht vor allen Leuten. Du hast ihnen für heute schon genug Unterhaltung geboten.«
    Nico war kurz davor, zu platzen. Aber er hatte recht. Sie nickte der Tortenfrau mit einem so falschen Lächeln zu, dass die ihren Karton schnellstens in Sicherheit brachte.
    »Komm mit. Ich zeige dir die Kohlenhandlung.«
    Sie liefen die Hauptstraße Richtung Altenbrunn hinunter. Immer noch fuhren keine Autos. Dafür spielten einige dick vermummte kugelige Kinder in den Vorgärten, bauten Schneemänner oder zogen mit einem Schlitten zum Hang hinauf, der nicht weit von Schattengrund liegen musste.
    Als die Kreuzung weit genug entfernt war, fragte Nico: »Was ist los?«
    »Ich weiß es

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