Schattengrund
eins von den Kindlein.«
Eine unendliche Trauer schien sich über seine groben Züge zu legen. Nicos Lächeln, mit dem sie eben noch milde und gütig Maiks blühende Fantasie ermuntert hatte, erstarb. Er sagte die Wahrheit. Wahrscheinlich balancierte sein armer Geist wie ein Seiltänzer zwischen Fiktion und Wirklichkeit und konnte beides nicht mehr unterscheiden. Doch seine Seele wusste Bescheid. Sie war gerade irgendwo oben im Berg, gefangen in einem silbernen Grab.
»Wann …« Sie räusperte sich. »Wann ist das passiert?«
»Vor zwölf Jahren.«
»Und du warst die ganze Zeit oben?«
Maik nickte. »Die ganze Zeit.«
Leon tauchte, begleitet vom Quietschen des Rollwagens, hinter einem Turm von Autoreifen auf. »Sag mal, neulich hab ich doch Katzenfutter bei euch gesehen.«
Maik kratzte sich hinter dem Ohr. »Katzenfutter? Du meinst die Kiste mit den Rheinischen Rouladen. Die steht da hinten. Kriegst du drei für einen Euro.«
Leon grinste Nico triumphierend an. »Da wird sich deine Süße aber freuen.«
»Ja«, murmelte sie. »Das wird sie.«
Zehn
Auf dem Rückweg überlegte Nico, welches Schauspiel sie Siebenlehen bieten würde, wenn sie mitten auf der – zugegebenermaßen mittagsruhleeren – Hauptstraßenkreuzung lautstark mit ihrer Mutter telefonieren würde. Um ein Geständnis kam sie nicht herum. Aber sie würde es lieber nicht in der Öffentlichkeit vor allen gespitzten Ohren ablegen.
Als sie die Tür von Schattengrund hinter sich schloss, atmete sie auf. Im Vergleich zu der Kälte draußen war es drinnen mollig warm, und sie freute sich wie ein Kind, als sie noch einige Glutreste im Kachelofen fand und die letzten Briketts daraufwarf. Wenig später prasselte das Feuer wieder, und als ihr auf dem Weg hoch in ihr Zimmer Minx entgegenkam, war das Glück perfekt.
»Wo warst du denn?«
Die Katze strich um ihre Beine und schnurrte wie ein Kontrabass. Kaum zu glauben, welchen Lärm pures Wohlbehagen machen konnte.
Nico schüttelte ihr Bett auf und warf einen kurzen Blick in Kianas Zimmer. Wie schade, dass sie sich nie mehr gesehen hatten. Sie hatte so viele Fragen und niemanden, der sie ihr beantworten konnte. Wegen mir haben die Steine geweint … Nico schüttelte sich. Und Vögel fielen tot vom Himmel. Am erstaunlichsten aber war für sie Maiks plötzliche Wandlung vom Märchenerzähler zum Rouladenverkäufer gewesen.
Minx sprang auf das Bett und miaute kläglich. Der Gedanke, dass ihr Frauchen tot war und nie wiederkam, machte Nico traurig.
»Du vermisst sie, nicht wahr?«
Die Katze rollte sich zusammen und begann, die mageren Beinchen abzulecken.
»Heute Nachmittag gibt es Rouladen. Und egal was passiert – du bleibst bei mir.«
Sie setzte sich zu der Katze und kraulte ihr den Nacken. »Ich lass dich nicht alleine. Soll ich dir was sagen? Dieses Haus ist mir egal. Du bist das Netteste, das mir in ganz Siebenlehen begegnet ist.«
Bis auf Leon, wollte sie eigentlich noch dazusetzen, ließ es aber bleiben. Leon hatte vielleicht ab und zu Anwandlungen von Beschützerinstinkt – meistens dann, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ oder er sich als der allwissende Retter aufspielen konnte. Aber nett konnte man ihn beim besten Willen nicht nennen. Im Gegenteil. Er brachte sie in schöner Regelmäßigkeit zur Weißglut.
Minx stand auf und streckte sich dermaßen, dass sie am ganzen Körper zu zittern begann. Dann sprang sie vom Bett und schaute Nico auffordernd an.
»Was ist? Willst du ein paar Haferflocken?«
Die Katze lief in den Flur und blieb abwartend stehen.
»Ach nö. Warte doch. Nachher kommt Leon und bringt uns Kohlen und eine Kiste Konservendosen. Das hältst du doch aus, oder?«
Statt einer Antwort kam ein ungeduldiges Miauen. Mit einem Seufzer stand Nico auf. Die Katze sprang weg, aber nicht die Treppe hinunter, sondern in die Ecke hinter dem Geländer, die Nico bisher noch gar nicht richtig gesehen hatte – und war verschwunden.
»Minx?«
Leises Getrappel über ihrem Kopf. Wahrscheinlich begaben sich die Mäuse des Hauses in erhöhte Alarmbereitschaft. Sie schaltete die Flurlampe ein und zwängte sich in den schmalen Gang hinter der Treppe, der nirgendwohin führte und offenbar leerer Raum war. Halt. Sie blieb stehen. An der Wand, vom Schatten eines Stützbalkens vor den Blicken verborgen, befand sich eine steile und sehr schmale hölzerne Stiege. Und die führte auf den Dachboden. Auf der letzten Sprosse vor der Luke saß die Katze und schenkte Nico einen rätselhaften
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