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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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hatte: Ich habe Hunger.
    »Du hast recht. Lass uns wieder runtergehen. – Warte mal.«
    Die Kartons unter der Dachschräge passten nicht zu dem alten Gerümpel. Sie waren nagelneu. Nico fragte sich, wer nach Kianas Tod noch in diesem Haus gewesen sein mochte. Die Zimmer waren aufgeräumt, alles war, obwohl ein wenig altmodisch und ramponiert, sauber und ordentlich.
    Sie bückte sich, um sich nicht schon wieder den Kopf anzustoßen, und öffnete den ersten Karton.
    Alte Bücher. Nico nahm eines nach dem anderen heraus und betrachtete es. Märchen der Gebrüder Grimm. Sagen und Legenden aus dem Harz. Bildbände von Quedlinburg und Goslar. Und schließlich ein in altes, abgegriffenes Leder gebundenes dickes Notizbuch. Nico schlug es auf und ihr Herz machte einen Sprung.
    »Geschichten zum Schlafengehen«, stand dort, mit schwarzer Tinte in Kianas schöner steiler Handschrift geschrieben.
    »Oh nein«, flüsterte Nico und begann, darin herumzublättern. Minx näherte sich in einer Mischung aus Vorsicht und Ungeduld, aber Nico streichelte nur zerstreut über den Rücken der Katze. Es waren viele Geschichten und manche von ihnen waren mit Bildern verziert. Bilder, die sie selbst gemalt hatte, als sie in Schattengrund zu Besuch gewesen war.
    Nico sitzt am Küchentisch. Vor ihr der Kasten mit den Buntstiften und dieses Buch. Neu ist es und erst zu einem Drittel vollgeschrieben. Zu jeder Geschichte darf Nico hinterher ein Bild malen. An diesem Tag aber hat sie den Spieß umgedreht: erst das Bild und dann die Geschichte dazu. Kiana hat sich darauf eingelassen. Sie steht am Herd und trägt eine bunte Schürze und witzige riesengroße Handschuhe, die sie immer anhat, wenn sie einen Topf vom Herd zieht oder den Ofen öffnet. Die Küche duftet nach Apfelkuchen und Zimt. Nico sieht verträumt aus dem Fenster. Dicke Schneeflocken fallen herab. Kiana zieht das Backblech aus dem Ofen und stellt es auf dem gusseisernen Herd ab. Sie zieht die Handschuhe aus und kommt zu Nico, beugt sich über das Bild und lächelt. Es zeigt die Berge, tief verschneit, und zwei Mädchen, die Hand in Hand auf eine Tür zugehen, die in die Felswand eingelassen ist. Das Lächeln verschwindet schlagartig. Nico bekommt ein schlechtes Gewissen. Hat sie etwas falsch gemacht?
    Wie schön, sagt Kiana gepresst. Und wie willst du die Geschichte nennen?
    Das silberne Grab, flüstert das Kind. Es hat das Gefühl, etwas schrecklich Verbotenes zu sagen.
    Aber schon wendet Kiana sich ab und beugt sich zur Ofenklappe hinunter. Sie summt dabei ein Lied. Es ist das gleiche, das sie immer summt, wenn Nico Angst vor der Dunkelheit hat.
    Das silberne Grab. Nico blätterte neugierig die Seiten um und fand nicht, was sie suchte. Am liebsten hätte sie gleich auf dem Dachboden mit dem Lesen angefangen. Dass es diesen Schatz noch gab! Kiana – das erinnerte sie jetzt – hatte eine blühende Fantasie besessen und ihr jeden Abend Geschichten erzählt, die ihr zuzufliegen schienen wie kleine, zahme Spatzen. Das silberne Grab … Schon in der Garage hatte sie das Gefühl gehabt, nicht zum ersten Mal davon zu hören. Vermutlich war es eine dieser gruseligen regionalen Legenden oder ein Märchen, das es damals nicht in die Sammlung der Gebrüder Grimm geschafft hatte. Oder Kiana hatte es sich tatsächlich selbst ausgedacht. Nein, dachte sie plötzlich, das hat sie nicht. Sie hat sogar den richtig bösen Märchen ihren Schrecken genommen und sie so verändert, dass Nico keine Angst haben musste. Böse Stiefmütter ließ sie nicht in glühenden Schuhen tanzen, bis sie tot umfielen. Sie verwünschte sie stattdessen und schickte sie als ewige Aufräumfee in Kinderzimmer.
    Nico grinste, als ihr dieses kleine Detail einfiel. Aber sosehr sie suchte, sie fand die Geschichte vom silbernen Grab nicht. Merkwürdig, denn die Erinnerung an jenen Nachmittag am Küchentisch war glasklar. Sogar Kianas Reaktion war wieder da. Sie hatte ihr schließlich, als sie zusammen am Tisch saßen und den noch warmen Kuchen aßen, liebevoll über den Kopf gestrichen, das Buch zugeschlagen und gesagt: »Das gibt es nicht. Aber mal sehen, ob ich es für dich erfinden kann.«
    Minx streunte näher und beschnupperte die Seiten. Es schien, als ob noch ein Hauch von irgendetwas zwischen den Seiten überlebt hatte. Oder kam der Geruch aus den Kissen? Kroch er gerade durch die Ritzen zwischen den Dachbalken herein? Nico hob den Kopf und zog scharf die Luft ein. Sie kannte diesen Duft, hätte aber nicht sagen können,

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