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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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nach ihrer Handtasche, die sie neben dem Stuhl abgestellt hatte. Sie berührte ihre Tochter leicht am Arm. »Nimm es dir nicht zu Herzen, mein Schatz. Wir hätten das vorher als deine gesetzlichen Vertreter wissen müssen. Wir haben lange überlegt, ob wir diesen Termin nicht ganz absagen. Aber dann dachten wir, man weiß ja nie, was alte Damen so unter dem Kopfkissen liegen haben.«
    »Steine, Altpapier und Besen«, murmelte Nico.
    Der Besen war vielleicht einen Meter lang, gebaut aus einem knorrigen Ast und einem Bündel Stroh, zusammengehalten von Hanfkordel. Das Ding sah zerfranst und ziemlich benutzt aus. Staub und Dreck rieselten schon beim Hinsehen auf die hochglanzpolierte Schreibunterlage aus schwarzem Leder. Nico wollte die Hand danach ausstrecken, aber die Berührung ihrer Mutter wurde zu einem festen Griff.
    »Lass das. Wir wollen das nicht.«
    »Ich kann ihn mir doch wenigstens mal ansehen.«
    Stefanie Wagner stieß einen Seufzer aus und ließ sie los. »Das Ding kommt mir nicht ins Haus.«
    Dabei wechselte sie einen schnellen Blick mit Nicos Dad.
    Nico nahm den Besen, wog ihn in der Hand, drehte und wendete ihn. Strohhalme lösten sich und fielen auf den Perserteppich. Gustav von Zanner schob die Lesebrille mit spitzem Zeigefinger hoch auf die Nasenwurzel und schaute ihr missbilligend zu.
    »Entschuldigung.« Nico bückte sich, um die Halme aufzulesen. Hoffentlich löste sich das Teil nicht gleich komplett in der Kanzlei auf. Sie fühlte sich, als ob es ihre Schuld wäre, dass man ihr so einen Schund vererbte. Als ob sie nichts Besseres verdient hätte.
    Was hatte sie sich nicht alles ausgemalt. Ein Termin in der Stadt, für den sie sich feingemacht und herausgeputzt hatten … Und dann im Auto – als ihre Eltern ihr von dem Erbe erzählt hatten – hatte sie die wildesten Überlegungen angestellt, ob sie wohl als Millionärin zurück in die enge Mietwohnung kehren würde. Alles Quatsch. Natürlich nicht. Sie hatte gelacht, hatte sich gefreut, dass jemand mal an sie gedacht hatte, hatte sich vielleicht gewundert, dass ihre Eltern so schweigsam waren und so spät damit rausgerückt hatten, aber umso größer war ihre Aufregung gewesen … Und das alles für – Müll.
    Nicos Blick fiel auf die Schuhe ihrer Mutter. Hellbraune Pumps mit Goldschnallen. Die trug sie selten. Ausgehen lag kaum noch drin im schmalen Familienbudget, seit die Leute ihre Reisen im Internet buchten und erwarteten, dass kein Flug mehr als zwanzig Euro zu kosten hatte. Ihr Vater hatte Chinos und Hemd gegen Anzug und Krawatte eingetauscht. Das letzte Mal hatte er sich bei Tante Kianas Beerdigung so fein gemacht.
    Nico war nicht dabei gewesen. Zum einen, weil sie an diesem Tag eine Deutschklausur geschrieben hatte. Zum anderen, weil sie sich kaum noch an Tante Kiana erinnern konnte. Und wenn, dann mit einem unguten Gefühl. Von Kiana sprach man in ihrer Familie in einem ganz speziellen Ton. Man wurde leiser, verzog bedauernd den Mund, versuchte, wie von einer Kranken zu reden, aber man bekam den Ärger nicht aus der Stimme heraus. Kiana musste ungeheuer nervig gewesen sein. Nicht ganz richtig im Kopf. Jemand aus der entfernten Verwandtschaft, den man kaum noch erwähnte. Nico hatte ein verschwommenes Bild von ihr aus der untersten Schublade ihrer Erinnerungen gekramt: eine zierliche Frau mit weißen krausen Haaren, die wohl einmal blond gewesen sein mussten. Ein verschmitztes Lächeln. Apfelkuchen. Ja. Der Duft von Apfelkuchen, das war der Duft von Kiana.
    Nico tauchte aus ihren Grübeleien wieder auf und legte den Besen zurück auf den Schreibtisch. Die Halme behielt sie in der Hand. Sie wusste nicht, wohin damit.
    Gustav von Zanner ließ die Mappe sinken und nahm die Lesebrille ab.
    »Nun denn. Nicola Wagner, nehmen Sie das Erbe an?«
    Den Pruster, den Nico ausstieß, konnte sie nur mit Mühe mit einem Niesen kaschieren.
    »Also ich weiß nicht. – Darf ich?« Sie nahm den Stein in die Hand. Er war groß wie ein Ei, scharfkantig, dunkel und schwer. An manchen Stellen glitzerte er. Ein Stein, wie man ihn an jedem Wegrand, an jeder Bushaltestelle, auf jedem Parkplatz finden konnte. »Das ist schon eine enorme Verantwortung. Schwer zu sagen, ob ich dem gewachsen bin. Was sagt ihr?«
    Der Witz kam nicht an. Weder bei von Zanner noch bei ihren Eltern.
    Theo Wagner stand auf. »Das ist das letzte Mal, dass ich mich von Kiana habe zum Narren halten lassen«, sagte er. »Ich muss jetzt wirklich. Es tut mir leid, Nico. Ich wünschte, sie

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