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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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ihrer Teetasse an und fragte sich, was passieren würde, wenn sie wirklich über Gefühle reden würden. Bitte nicht, dachte sie und merkte, wie sie rot wurde. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie waren eben dem Tod entronnen – ziemlich souverän, wie sie fand, und ein einziger Satz, ein Blick brachte sie völlig aus der Fassung.
    Sie nahm einen tiefen Schluck, obwohl sie wusste, dass sie sich damit den Mund verbrennen würde. Nur, um zu husten, zu röcheln und damit die Spannung, die in der Luft zu liegen schien, zu zerstören.
    »Was erwartet mich, wenn ich nicht schnell genug die Kurve kratze?«
    Er nahm ihr gedankenverloren den Teebecher aus der Hand und trank einen Schluck. Seine Finger berührten ihre. Es war wie ein winziger, elektrischer Schlag.
    »Nichts. Solange ich bei dir bin.« Mit einem Grinsen reichte er ihr den Becher zurück.
    Sie atmete auf. Er war die Ruhe selbst. Ihre Gegenwart schien ihn in keiner Weise nervös zu machen. Sie überlegte, ob sie Freunde werden könnten.
    »Warum hassen mich alle so?«
    »Ich weiß es nicht. Wirklich. Wahrscheinlich, weil du keine Tischmanieren hast und frisst wie ein Scheunendrescher.«
    »Was?« Nico griff nach dem nächstbesten Kissen und wollte es in seine Richtung schleudern, aber Leon sprang blitzschnell auf und brachte sich hinter dem Sessel in Sicherheit.
    »Ich finde es ja süß.« Er ahmte nach, wie sie mit vollen Backen kaute, und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken.
    »Und grade wollte ich fragen, was es zum Frühstück gibt!«
    »Rühreier?«, fragte er. »Einfach um zu sehen, ob du deine Bestmarke von sechs Komma acht Sekunden noch überbieten kannst.«
    »Weiß nicht«, sagte sie und grinste. »Käme auf einen Versuch an.«
    Während sie wenig später unter der heißen Dusche stand und langsam das Gefühl hatte, wieder aufzutauen, machte Leon sich in der Küche zu schaffen. Sie war froh, dass die kurze Befangenheit zwischen ihnen nur ihr aufgefallen zu sein schien. Den Anflug von schlechtem Gewissen, dass er eigentlich ununterbrochen von ihr auf Trab gehalten wurde, ignorierte sie. Wahrscheinlich war er froh, aus dem Schwarzen Hirschen wegzukommen. Sie spürte, wie die Anspannung sie verließ. Je heller es draußen wurde, umso leichter fiel es ihr, die Geschehnisse der Nacht als einen Streich abzutun. Einen Streich, der böse hätte enden können, der dank Leons Hilfe aber glimpflich abgelaufen war.
    Sie griff nach dem Handtuch und trat an die beschlagene Scheibe des Badezimmerfensters. Mit einem Zipfel rieb sie ein kleines Guckloch frei. Über die Kreuzung hinweg bewegte sich eine Prozession. Sie sah genau so aus wie die, die sie auf dem Foto im Schwarzen Hirschen gesehen hatte. Wahrscheinlich würde sie sich nie verändern. Nicht in sechzig und auch nicht in sechshundert Jahren. Es gab Dinge, an denen die Zeit spurlos vorüberging.
    Vorneweg schritten Ministranten mit Weihrauchfässern. Ihnen folgte der Kreuzträger, dahinter tauchten Männer in schwarzen Mänteln auf, die Leuchter und eine Statue trugen. Und dann, in die dunkle Tracht der Siebenlehener Bergleute gekleidet, rund hundert Menschen.
    Nico zog sich in Windeseile an und raste hinunter in die Küche, wo Leon bereits den Tisch gedeckt hatte.
    »Die Prozession!«, rief sie durch die offene Tür. Sie rannte weiter ins Wohnzimmer und riss den Vorhang am Fenster zur Seite. Leon folgte ihr. Der Zug verließ die Kreuzung und setzte sich Richtung Schattengrund in Bewegung.
    »Wohin wollen die?«
    »Keine Ahnung.«
    Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. »Ich dachte, du kennst dich so gut aus mit den Bräuchen hier?«
    Urplötzlich legte er ihr die Arme um die Schultern und zog sie kurz an sich. Nico wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Noch nie war Leon ihr so nah gewesen. Wenn sie den Kopf an seine Schulter legen würde – wäre das zu viel? Was würde er von ihr denken? Gerade noch hatte sie die heikle Frage nach Gefühlen mit Ach und Krach umschifft, da überraschte er sie mit so einer Geste.
    »Du riechst irgendwie geräuchert«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.
    Er ließ sie los und schob den Vorhang noch ein Stück zur Seite. Sie hätte sich ohrfeigen können. Ein Mann nahm sie in den Arm. Einer, der ihr nicht nur das Leben gerettet hatte – mehrmals, wie sie mittlerweile zugeben musste – , der umwerfend gut aussah und der sie auch nicht für verrückt erklärte, wenn sie in Feindesland nach Schwertern und Türmen suchte. Und ihr fiel nichts Besseres ein, als ihn

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