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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Normalerweise machte man sich bemerkbar. Mit einem leisen Seufzen sah er auf seine Armbanduhr. Eigentlich musste er jetzt los und die Helfer begrüßen. Aber die Sünde fragte nicht nach Zeit und Stunde, also durfte es die Vergebung auch nicht tun. Mit einem Seufzen wandte er sich ab von der Figur und stieg die Stufe hinunter.
    Im Beichtstuhl setzte er sich auf das zerschlissene Samtkissen und faltete die Hände. Stille. Gero wartete. Endlich hörte er ein leises Rascheln, als ob das Beichtkind unruhig auf seiner Bank hin- und herrutschte.
    »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Eine heisere, leise Frauenstimme. Gero fielen mehrere Damen ein, denen er diese Stimme zuordnen könnte, aber er war sich nicht ganz sicher.
    »Gott, der unsere Herzen erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit«, sagte er.
    »Ach ja«, stöhnte es nebenan. Stille.
    Gero sah wieder auf seine Uhr. Er wollte ja nicht drängen, aber …
    »Zwei Nächte habe ich nicht geschlafen«, sagte die heisere Stimme von nebenan durch den Vorhang. »Mich rumgewälzt und gebetet und gehofft, es würde vorbeigehen und mich gefragt, warum ich so geprüft werde … so geprüft …« Schluchzen. Ein leises Schniefen, gedämpft durch ein Taschentuch. »Sie ist wieder da. Und alles kommt wieder hoch. Alles.«
    »Wen meinst du, meine Tochter?«
    »Die Hexe oben in Kianas Haus.«
    Gero beugte sich näher an das kleine Fenster mit dem Vorhang auf der anderen Seite. Er war zugezogen, sodass er nicht erkennen konnte, wer dort saß. Aber er ahnte es.
    »Es gibt keine Hexen«, sagte er bestimmt. »Du meinst Kianas Nichte. Ich habe davon gehört, dass sie zurückgekommen ist. Das ist nicht schön, aber damit müssen wir …«
    »Sie hat unser Leben zerstört! Meins, und … und …ich kann damit nicht leben! Ich kann es nicht! Ich habe gebetet, um diesen Hass aus meinem Herzen zu vertreiben. Aber ich schaffe es nicht! Ich schaffe es einfach nicht …«
    Gero begriff, dass die Gemeinde vielleicht noch ein paar Minuten warten musste. Er hatte gefürchtet, dass es so weit kommen würde. Jeder im Dorf wusste es. Wie ein Lauffeuer war es herumgegangen: Die Kleine ist wieder da. Kianas Nichte ist zurückgekommen. Die Blicke, wie magisch wurden sie von Schattengrund angezogen. Flüsternd standen die Leute zusammen, senkten die Köpfe, wenn er vorüberging, wechselten das Thema. Aber er wusste, was sie bewegte: eine ungesühnte Tat. Kiana hatte dafür büßen müssen, und sie hatte diese Last so lange Jahre auf ihren Schultern getragen. Keiner hatte sie ihr abnehmen können, auch er nicht. Er hoffte, dass sie Frieden gefunden hatte in ihrer letzten Stunde.
    Er suchte nach Worten und vielleicht sprach er sie mehr zu sich selbst als zu der Unglücklichen auf der anderen Seite.
    »Du musst diesen Hass überwinden. Du musst es wenigstens versuchen.« Ein ersticktes Schluchzen war die einzige Antwort. »Sie war ein Kind. Du musst verzeihen. Endlich verzeihen.«
    »Ich kann es nicht! Warum musste sie auch zurückkommen und alles wieder aufwühlen? Sie marschiert durchs Dorf und tut so, als ob sie sich an nichts erinnern könnte. Weiß sie nicht, dass sie uns damit ins Gesicht spuckt?«
    »Es ist bestimmt nicht ihre Absicht …«
    »War es auch keine Absicht, als diese Lügen verbreitet wurden? Als Kiana in unser Haus kam und das Schlimmste, das Schlimmste …«
    Die Stimme brach. Pfarrer Gero sah auf seine Hände. Er wusste, wovon sie sprach. Es war, als ob alles erst gestern geschehen wäre und die Wunden wieder aufbrachen, hässlicher und schmerzender denn je. Verzweiflung, Kummer, bitterstes Leid. Nichts war gesühnt. Hatten sie gehofft, es wäre nach Kianas Tod vorbei? Hatten sie geglaubt, es könnte Frieden einziehen, wenn nur genug Zeit verginge? Zwölf Jahre waren vergangen, und nichts war vergessen, nichts vergeben, nichts vorbei.
    Nur der Herr konnte das verzeihen. Die Menschen von Siebenlehen wohl nicht.
    Er hörte das leise Weinen und fragte sich, wann seine Schuld verjährt sein würde. Es gab Nächte, in denen sich die Erinnerung wie ein kalter Stein auf seine Brust legte. Träume, die ihn schlafend schaudern ließen. Schreie, die aus tiefster Kälte kamen und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und eine Stimme, leise und monoton, die ihm das Fürchterlichste offenbarte, was er je gehört hatte. Mea culpa , dachte er, mea maxima culpa …
    »Verstehen Sie mich?«, fragte die heisere Stimme.

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