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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Harke, die glücklicherweise vom Schnee daran gehindert worden war, ebenfalls hinunterzurutschen. Langsam führte er sie in die Öffnung und stocherte darin herum. Er hielt mitten in der Bewegung inne und leuchtete noch einmal hinein.
    »Was ist?«
    Statt einer Antwort drehte er ihr den Rücken zu, beugte sich noch tiefer über die Öffnung und ließ seinen rechten Arm darin verschwinden. Sie hörte ihn keuchen vor Anstrengung, als er versuchte, den verstopften Kamin freizubekommen. Nico betete, dass er nicht aus Versehen selbst darin verschwand. Er fluchte, zog und zerrte und holte schließlich etwas heraus, das sie nicht erkennen konnte. Er warf es in hohem Bogen vom Dach.
    »Was … Was war es denn?«
    »Alte Häuser«, gab er zurück.
    Er tastete sich langsam über den First in Nicos Richtung. Sie wartete, bis er die Leiter erreicht hatte und festhielt.
    »Geh schon mal rein. Ich komme gleich nach.«
    Aber etwas in seiner Stimme hielt sie davon ab. Mit steif gefrorenen Beinen kletterte sie herunter. Bevor auch er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, suchte sie im Garten schon nach der Ursache für das Kamin-Desaster. Ein paar Meter vom Geräteschuppen entfernt entdeckte sie einen dunklen Fleck auf dem Schnee.
    »Nein! Nico! Lass das!«
    Unwillig stapfte sie nur noch schneller durch den Schnee. Sie konnte hören, wie Leon hinter ihr herlief, aber sie war schneller. Der dunkle Fleck wurde zu einem schwarzen Knäuel, und einen schrecklichen Moment lang glaubte Nico, es wäre Minx. Dann erkannte sie ihren Irrtum. Es war ein Vogel.
    Sie ging in die Knie und betrachtete das tote Tier.
    »Eine Krähe«, sagte Leon hinter ihrem Rücken. »Lass sie liegen. Wer weiß, wie lange sie schon tot ist.«
    »Eine Krähe im Schornstein?«
    »Wahrscheinlich hat sie einen warmen Platz gesucht.«
    »Das glaubst du doch selbst nicht, oder?« Nico stand auf. Im Schnee leuchtete rotes Blut. »Was ist mit ihrem Kopf passiert?«
    »Wieso?«
    Sie starrte auf den verrenkten Körper. »Weil sie keinen mehr hat.«

Sechzehn
    Sie war wunderschön.
    Die blonden Locken umspielten wie Engelshaar ihr liebliches Gesicht. Anmutig stand sie auf ihrem Gerüst, den Blick zum Gebet gesenkt. Sie trug ein bodenlanges schlichtes Kleid aus weißer Seide, darüber den surcot, einen Umhang, der über der Brust mit einer Fibel zusammengehalten wurde. Ihre zarten Füße verschwanden in den Tannenzweigen, mit denen das Gerüst geschmückt war.
    Pfarrer Gero ordnete ein letztes Mal den Faltenwurf. Er bemerkte, dass der Saum des Kleides bei genauem Hinsehen nicht mehr ganz so strahlend weiß war wie der Rest des Habits. Die Figur stand die meiste Zeit des Jahres in einer kleinen Kammer neben der Sakristei. Eine professionelle Reinigung würde ein Vermögen kosten, das die Gemeinde nicht hatte. Es war schon ein Wunder, dass die Spenden ausgereicht hatten, um den Glockenstuhl im letzten Jahr zu renovieren.
    Es war ein kleines, schlichtes Gotteshaus. Man spürte sofort, dass es für Menschen gebaut worden war, die Generationen lang in bitterster Armut gelebt hatten. Schmucklose, weiß gekalkte Wände, durchgesessene Bänke, abgeschabte Fußleisten. Nur den Altar schmückte eine prächtige Decke, und das Kreuz darüber war ein kleines Meisterwerk aus dem neunzehnten Jahrhundert, gestiftet von einem, den das Silber reich gemacht hatte. Es war eine Kirche für Bergleute, die zum Beten weder Pracht noch Herrlichkeit, sondern einen möglichst schnellen und direkten Draht zum lieben Gott brauchten.
    Heilige Barbara, solange wir leben, fühlen wir uns gefangen in Sorge und Not, in Leid und Sünde. Hilf, dass wir Jesu Leiden, sein Sterben und seine Auferstehung als Botschaft der Befreiung aus unserer irdischen Gefangenschaft begreifen und in der Todesstunde eingehen dürfen in sein ewiges Erbarmen.
    Er zupfte an den Tannenzweigen herum, bis sie den Saum des Umhangs verdeckten, und trat einige Schritte zurück.
    Sie war wirklich wunderschön.
    Eine Tür knarrte. Gero lauschte. Die Kirche war leer. Die Prozession würde erst in einer Stunde beginnen, im Gemeindehaus warteten bereits große Thermoskannen mit Tee und Kaffee auf die Teilnehmer. Er mochte diesen stillen Moment, bevor es losging. Ein paar Gedanken, ein kurzes Gebet. Nur er, die Heilige und Gott.
    Und jetzt eine arme Seele, die im Beichtsuhl saß und gerade die Tür hinter sich geschlossen hatte. Der Samtvorhang bewegte sich noch. Gero mochte es gar nicht, wenn jemand hinter seinem Rücken herumschlich.

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