Schattengrund
»Verstehen Sie mich?«
Sie sollte schweigen, endlich schweigen. Am liebsten wäre er aus dem Beichtstuhl gestürzt. Er fürchtete sich vor dem Moment der Absolution. Nicht nur der Büßer, auch der Beichtvater sollte dabei reinen Herzens sein. Seines war schwarz und dunkel wie die Nacht.
Seine Antwort war ein Flüstern. »Ja.«
»Ich habe die beiden doch gesehen, wie sie losgegangen sind. Ich hätte sie noch zurückhalten können und ich habe es nicht getan … nicht getan …«
Gero spürte den Schmerz in seinen verkrampften Fingern. Er löste sie voneinander und atmete tief durch. Schuldgefühle. Die ewig gleichen quälenden Fragen: Warum konntest du etwas nicht verhindern? Hättest du Dinge abwenden können, wenn du nur schneller, bestimmter, wacher, mutiger, zögernder, stiller, lauter, auf jeden Fall anders gewesen wärst als im Moment deines größten Fehlers?
»Es ist nicht deine Schuld. Versuche, Vergebung zu schenken, dir und anderen, so wie auch der Herr dir vergeben wird.«
»Ich … Ich will es versuchen. Ich will es ja! Erbarme dich meiner, Herr. Erbarme dich!«
»Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
»Amen.«
»Der Herr hat dir deine Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.«
Ein leises Rascheln, das Knarren der Tür. Gero wartete, bis die Schritte sich entfernt hatten. Erst dann stand er auf und trat aus der Enge des Beichtstuhls hinaus in das Kirchenschiff. Seine Hand zitterte. Er hoffte, dass sie ihm nichts angemerkt hatte.
Er ging zurück zur heiligen Barbara und berührte den Saum ihres Kleides. Das Mädchen lächelte herab, unschuldig und rein, als ob es selbst dem schlimmsten Sünder noch Vergebung gewähren könnte.
Dies war erst der Anfang. Es würde weitergehen. Ein Abgrund würde sich auftun, der alle verschlingen würde. Alle, die damals an dieser Tragödie beteiligt gewesen waren. Und ihn dazu. Ihn, der die Sünden der anderen vergeben konnte, aber nicht die eigenen.
Es gab nur eine Lösung.
Siebzehn
Nico saß mit angezogenen Beinen auf der Couch und klammerte sich an ihren Teebecher fest. Das Feuer loderte im Kachelofen, und draußen vor dem Fenster vertrieb die Morgendämmerung die Dunkelheit. Sie erinnerte sich nicht, jemals so früh hellwach gewesen zu sein.
Leon schürte die Glut. Der Rauch zog ohne Probleme ab. In der Luft hing immer noch ein beißender Gestank, aber Nico hatte die Türen trotzdem geschlossen. Sie beobachtete, wie Leon die Ofenklappe öffnete und Kohlen nachlegte. Er trat einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und prüfte, ob sie auch richtig lagen. Kein überflüssiger Handgriff, jede Geste von ihm hatte einen Sinn. Sie merkte, dass sie ruhiger wurde, wenn sie ihn bei so einfachen, aber lebensnotwendigen Dingen wie Heizen zusehen konnte. Wahrscheinlich hätte seine Anwesenheit eine ähnliche Wirkung, wenn er Türen streichen oder Abflussrohre reinigen oder Mammuts zerlegen würde. Er tat etwas, und tun war immer gut.
Der tote Vogel im Schnee und die Blutstropfen – das Bild tauchte immer wieder auf. Wer warf eine geköpfte Krähe in einen Schornstein? Warum? War das ein unbekanntes Ritual zur Teufelsaustreibung? Mit Anfeindungen konnte sie umgehen, mit Verwünschungen auch. Aber nun war eine Grenze überschritten worden.
»Und wenn ich es bis Altenbrunn schaffe?«
Leon stellte den Schürhaken zurück und klopfte sich die Hände an seiner Hose ab. »Das schaffst du nicht. Der Schnee liegt zu hoch. Du müsstest dich quasi durchgraben.«
»Ich will weg. Das wird mir zu unheimlich. Wenn du nicht gewesen wärst …«
Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. Sie trank einen Schluck Tee und versuchte, die kleine Enttäuschung zu ignorieren. Warum setzte er sich nicht neben sie? Stattdessen zog er es vor, auf Abstand zu gehen.
»Ich hatte so ein Gefühl.« Er strich sich die Haare zurück. Sie waren noch feucht und fielen ihm immer wieder in die Stirn.
»Und was sagt das sonst noch?«
Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war ein Schock. Nico wusste nicht, was er zu bedeuten hatte. Am liebsten hätte sie ihre Frage zurückgeholt. Sie klang zweideutig. So, als ob sie etwas ganz anderes wissen wollte. Dabei hatte sie nur an eine Einschätzung der Lage gedacht. Ob sie zur Polizei sollten. Ob es in Siebenlehen überhaupt eine Polizei gab. Ob der Täter wiederkommen würde. Was dieser Anschlag zu bedeuten hatte.
»Mein Gefühl?«, wiederholte er leise.
Nico sah ihn über den Rand
Weitere Kostenlose Bücher