Schattengrund
Wer Maik nicht schnell genug auswich, wurde gnadenlos zur Seite geschoben.
Die heilige Barbara hatte die Größe eines Kindes. Das blonde Haupt hielt sie leicht gesenkt. Die eine Hand ruhte auf dem Herzen, die andere war von ihrem weißen Umhang verborgen. Je näher Nico kam, desto mehr spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Das Stimmengemurmel wurde leiser, die Leute wichen ihr aus. Maik ließ ihre Hand los und blieb zurück. Wie ferngesteuert marschierte sie weiter und konnte den Blick nicht von der Figur wenden. Die Gasse zwischen den Bänken wurde leer, die letzten Schritte ging sie allein.
Es wurde totenstill. Nico blieb stehen und konnte nicht glauben, was sie sah.
Die heilige Barbara war das Mädchen aus ihrem Traum.
Sie stand barfuß auf einem Steinhaufen – wahrscheinlich war er nicht echt, sonst hätten die Männer die Figur gar nicht tragen können. Um sie herum waren Tannenzweige drapiert. Demütig hielt sie den Kopf halb gesenkt und schien Nico anzusehen. Der weich fließende weiße Umhang verdeckte, dass sie ein Schwert in der linken Hand hielt. Nico hielt den Atem an. Der flache Steinhaufen, auf dem die Märtyrerin stand, entpuppte sich als Sockel eines kleinen Turms, der ihr bis zu den Hüften reichte.
»Turm und Schwert«, flüsterte Nico. »Was hat das zu bedeuten?«
Sie sah hoch zu dem Mädchen, als ob sie eine Antwort erwarten würde. Sein Gesicht war aus Wachs, aber so naturgetreu gebildet, dass Nico sogar die Tränen sehen konnte, die am Wimpernkranz der Heiligen hingen. Tränen aus Eis. Nico blieb fast das Herz stehen, als eine von ihnen sich löste, auf die Wange fiel und wie eine durchsichtige Perle hinunter bis ans Kinn rollte. Es sah so echt aus, als würde das Mädchen gleich von seinem Bett aus Tannenzweigen herunterspringen. Dabei fing das Eis nur an zu tauen. Aber Menschen hatten schon immer an Wunder geglaubt, für die es bei näherer Betrachtung eine natürliche Erklärung gab. Und genau die wollte Nico haben.
Der Pfarrer wurde aufmerksam und kam die Stufen vom Altar zu ihr herunter.
»Wer ist das?«, flüsterte Nico.
»Die heilige Barbara.«
»Das stimmt nicht.« Sie drehte sich um. Die Leute, die ein paar Meter weit entfernt standen, wichen einige Schritte zurück und suchten sich einen Platz in den vorderen Bankreihen. »Wer ist sie?«
Das Murmeln und Zischen begann hinten am Eingang und setzte sich wie eine Welle fort. Zwei Messdiener arrangierten die Kerzen, ein dritter huschte mit seinem Weihrauchbecken gerade neben den Altar. Der Geruch des brennenden Harzes breitete sich aus wie süßes Gift, das bei jedem Atemzug tiefer in Nicos Lunge drang. Ihr wurde schwindelig und übel.
Der Pfarrer hob die Hände und machte eine beschwichtigende Geste. Die Menschen in der ersten Bankreihe warfen sich vielsagende Blicke zu.
»Nehmen Sie Platz, die Messe beginnt gleich«, sagte er leise. »Bringen Sie doch nicht die ganze Liturgie durcheinander.«
»Ich will wissen, wer dieses Mädchen ist.«
»Später. Ich erkläre es Ihnen. Nicht jetzt.«
Die Orgel begann mit der Improvisation eines Kirchenliedes. Wohin Nico auch sah – das Wohlwollen, das sie zu Beginn der Prozession noch bei einigen entdeckt hatte, war komplett verschwunden. In den Gesichtern spiegelten sich nur noch Ungeduld, Missfallen und offen gezeigter Ärger. Sie war der Störenfried, der mitten in der Kirche dem Pfarrer und der Gemeinde unangenehme Fragen stellte.
Der Pfarrer wandte den Bankreihen den Rücken zu und tat so, als ob er ein paar verrutschte Tannenzweige zu Füßen der Heiligen ordnen wollte. Ein kleines Messingschild wurde sichtbar. Schnell, als ob er einen Fehler begangen hätte, drehte sich der Pfarrer wieder zu den Anwesenden um und versteckte das Schild mit seinem Rücken.
»Okay«, sagte sie. »Ich komme wieder.«
Der Pfarrer lächelte und hob die Hand. »Gott segne dich, mein Kind.«
Neunzehn
Wütend stapfte Nico den Weg zurück nach Schattengrund. Alle wussten etwas. Keiner redete mit ihr. Und sie bekam Albträume, in denen eine Heilige herumspukte und sie vor dem Bösen warnte. Das passte doch alles vorne und hinten nicht zusammen. Die Schutzpatronin der Bergleute konnte doch nicht der Grund sein, warum alle in Siebenlehen sauer auf Kiana und ihre Großnichte waren. Und war sie eines von Kianas Rätseln gewesen? Was hatte das zu bedeuten?
Die heilige Barbara. Nie im Leben hatte sie etwas mit dieser Märtyrerin zu tun gehabt. Gut, man kannte den Namen von Heiligen. Und vielleicht auch
Weitere Kostenlose Bücher