Schattengrund
oder?«
Nico stand auf und holte zwei Teller aus dem Regal. Beide stellte sie auf die Arbeitsplatte aus Aluminium. Sie wollte nicht in der Gaststube essen.
»Ich will Antworten. Es ist mir zu einfach, dass ich sie einfach so in den Berg geschleift und da sitzen gelassen haben soll!«
»Wer sagt das?«
»Der Pfarrer. Und dem muss ich ja wohl glauben.« Sie drehte sich weg. Er sollte nicht sehen, wie sehr sie dieser Vorwurf getroffen hatte. Und wie schlimm die Befürchtung war, er könnte die Wahrheit sein.
Leon zog die Pfanne vom Feuer. Er holte Besteck aus einer Kiste und ein frisches Brot, das man ihm wahrscheinlich schräg gegenüber mit freudenroten Bäckchen verkauft hatte.
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Ich weiß es nicht. Warum sollte der Pfarrer lügen?«
Leon brach ein Stück Brot ab, steckte es sich in den Mund und kaute. Nico holte die Pfanne und verteilte die Würstchen auf den Tellern.
»Ja«, sagte er schließlich. »Warum sollte er. Nico.«
Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich. Es war eine so normale Berührung in so merkwürdigen Zeiten, dass Nico höchstens ein bisschen rot wurde. Durch die Wärme und den Hunger wirkte das auch sehr plausibel.
»Ich habe kaum eine Erinnerung an die Zeit, als ich sechs war«, sagte er. »Ein paar Bilder vielleicht. Die Einschulung. Der Tod meines Großvaters. Der schwarze Anzug, den mein Vater trug, als er damals aus Siebenlehen zurückkam. Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, da sind wir mal hingereist. Fetzen, Eindrücke, verworren und verschwommen. Wie soll das erst mit einer so schrecklichen Geschichte sein, die jeder vergessen will? Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.«
Sie entzog ihm ihre Hand. »Dann sag das bitte auch dem, der ständig um Kianas Haus schleicht und mich ausspioniert und mir meine Hausschuhe klaut. Und sie anschließend wieder zurückstellt. Das ist doch völlig krank, oder? Er hat die Augen aus meinen Schuhen geschnitten. Ist das pervers oder nicht?«
»Die Augen aus deinen Schuhen?«
»Ja, sie hatten … Ach, vergiss es.«
Sie zog den Teller zu sich heran und verzichtete auf Besteck; sie aß die Wurst einfach mit den Fingern. Kniggemäßig war sie ja bei ihm auch unten durch. Und ihr Magen machte sowieso, was er wollte. Eben noch war ihr speiübel, und kaum stand etwas Essbares auf dem Tisch, brachen alle Dämme mühsam anerzogener Zivilisation.
Leon schob ihr ein Stück Brot herüber. »Hier bist du sicher. Ich würde sogar deinen Hausschuhen Asyl geben. Gerade jetzt, wo sie so plötzlich erblindet sind …«
Nico gab mit vollem Mund ein Geräusch von sich, das ihm sagen sollte, was sie von dieser Frechheit hielt.
»Ich zeige dir Filis Zimmer. Es liegt auf der anderen Seite vom Dachgeschoss.«
Er stand auf und ging in die Gaststube. Sie hörte, wie er Schubladen aufzog und etwas suchte. Schließlich kam er mit einem triumphierenden Grinsen zurück. Sie konnte sich gerade noch den letzten Wurstzipfel in den Mund schieben. Leon hatte sein Essen nicht angerührt. Sie überlegte, wie unhöflich und pietätlos es wäre, seine Portion auch noch aufzuessen. Sehr, gab sie sich schweren Herzens die Antwort.
»Der Generalschlüssel.« Er legte ihn vor Nico auf den Tisch. »Eigentlich ist er für die Haustür und den Bierkeller gedacht. Statt Bier liegt da unten mittlerweile alles Mögliche, an das man immer wieder ranmuss. Aber: Man kommt damit in alle Zimmer.«
Sie wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und nahm den Schlüssel vorsichtig in die Hand.
»Du bist klasse.«
»Sag ich doch. Immer wieder. Es hört nur keiner.«
Siebenundzwanzig
Vorsichtig wie die Diebe schlichen sie durch das große Haus. Als Nico an »ihrem« Zimmer vorbeikam, blieb sie stehen. Ihr war gerade ein sehr unangenehmer Gedanke gekommen.
»Sag mal, wie viele Generalschlüssel gibt es denn?«
»Keine Ahnung.«
Leon öffnete ihre Tür und deutete auf das Schloss. »Dein Schlüssel steckt von innen. Das ist dir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Wenn du drin bist, schließt du ab und lässt ihn stecken, dann kann keiner rein.«
Nico nickte, fühlte sich aber nicht im Mindesten erleichtert. Es schien eine ausgemachte Sache zu sein, dass sie in dem geschlossenen Hotel blieb. Wahrscheinlich hatte Leon auch recht, wenn er sie hierbehalten wollte. Noch eine Nacht in Schattengrund war ein großes Risiko. Aber sicherer fühlte sie sich hier auch nicht. Sie zog ihren Zimmerschlüssel ab, steckte ihn von außen ins Schloss und verriegelte die Tür. Dann
Weitere Kostenlose Bücher