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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Haare darstellen sollten. Jede hatte einen krummen Stab in der Hand, von dem ein Büschel Striche abging – die Besen. Sie erkannte schiefe Dreiecke – die Berge. Ein paar stachlige Tannen. Die halbrunde Tür zum silbernen Grab. Und Farben und Linien, die nur Nico deuten konnte.
    »Die Winterhexen«, flüsterte sie. »Da, das Eiskraut, das die Bäume hochklettert und das man nicht berühren darf, sonst wird man zu einer Statue aus Schnee. Das blaue Licht, das durch die Baumstämme schimmert und den Weg weist. Die Kobolde unter den Wurzeln, die die Kinder aufhalten und in die Irre führen. Es ist doch ein Märchen. Ich hab doch nur eine Geschichte gemalt, die Kiana mir erzählt hat. Ich wollte nicht weg. Nie im Leben! Ich hatte doch gar keinen Grund, dahin zu wollen. Ins Paradies. Schattengrund war doch ein Stück Kinderhimmel auf Erden. Ich habe mich wohl gefühlt und geborgen. Ich hatte einfach keinen Grund wegzulaufen.«
    »Was ist das Märchen vom silbernen Grab? Eine Verheißung? Irgendetwas wahnsinnig Tolles?«
    »Ich … Ich weiß es nicht.«
    »Und trotzdem habt ihr es ernst genommen.«
    Nico schüttelte resigniert den Kopf. »Es muss wohl so gewesen sein. Ich erinnere mich nicht daran, wie ich als Kind war. Ich glaube, anders als heute. Ganz anders. Offener. Glücklicher. Ich bin durch die Welt gehüpft wie ein Gummiball. Aber ich kann natürlich nicht meine Hand für mich selbst ins Feuer legen. Wer weiß. Es sieht alles so aus, als ob ich mit Fili abgehauen wäre, um in irgendeinen alten Stollen zu krabbeln, weil wir einem Märchen auf den Leim gegangen sind. Und dann habe ich sie allein gelassen. Vielleicht … Vielleicht wollte ich Hilfe holen?«
    Leon nickte. »Bestimmt. Das wäre eine Erklärung. Was ist das?«
    Er hatte das letzte Blatt umgedreht. Ihr Blick fiel auf ein zweites Bild. Filis Zeichnung. Der Anblick traf Nico wie ein Faustschlag in die Magengrube. Sie war zarter und detaillierter als Nicos Gekritzel und zeigte ein Mädchen in einem Zimmer.
    »Das hat Fili gemalt. Auf dem Dachboden von Schattengrund. Komisch, an diesen Moment kann ich mich erinnern. Wir hatten dort oben unser eigenes Reich. Wir haben gespielt und gekichert und mit Buntstiften gezeichnet. Und irgendwann ist dieses Bild entstanden. Sie hat es in Kianas Märchenbuch gemalt. Aber, schau mal, es hat gar nichts mit dem Märchen zu tun.«
    Leon beugte sich zu ihr. Sie spürte, wie seine Haare ihre Wange berührten. Wie Krähenfedern, dachte sie. Ein bisschen drahtig und kratzig. Ihre Mutlosigkeit und Trauer schien für einen Moment wie weggeblasen.
    »Das ist dieses Zimmer«, sagte er.
    Nico hob den Blick und verglich den Raum mit der Zeichnung. Unsichere Striche in der zweidimensionalen Perspektive, die kleine Kinder noch anwenden. Die Füße über-, nicht nebeneinander. Der Kopf immer frontal, so gut wie nie im Profil. Einfache Gegenstände, die man schnell wiedererkennen und auch aus dem Gedächtnis malen konnte. Tisch. Schrank. Bett. Mädchen.
    »Ja.« Erstaunt stand sie auf und drehte sich um. »Das Bett, das Fenster, das Regal. Und das ist Fili. Schau, sie liegt im Bett und hat die Decke hochgezogen. Nur ihr Kopf guckt heraus. Aber …«
    Etwas stimmte nicht. Es war keine fröhliche Kinderzeichnung, auch wenn sie mit bunten Farben auf das Papier gebracht worden war. Etwas Düsteres war in diesem Bild. Etwas Bedrohliches, das sie nicht hätte benennen können.
    »Sie weint«, sagte Leon.
    Tränen liefen aus den grünen Augen über das runde Gesicht. Nico hielt das Blatt unter die Deckenlampe, um es besser erkennen zu können. Sie verglich das Zimmer mit der Zeichnung. Alles stimmte. Nur der Vorhang nicht.
    »Sie hat Angst vor dem Vorhang. Aber da ist doch gar keiner.«
    Leon kam zu ihr und stellte sich neben sie. Das kleine Fenster über dem Bett mit seinen winzigen Scheiben hatte eine klitzekleine Gardine, eigentlich eher eine Bordüre. Aber auf Filis Bild bauschte sich links, am Fußende, ein langer, dunkler Vorhang. Und je länger Nico diesen Vorhang betrachtete, desto schrecklicher wurde die Ahnung in ihr.
    »Das ist kein Vorhang.« Sie ließ die Zeichnung sinken. »Das ist ein Schatten. Jemand steht an Filis Bett und sie weint. Oh mein Gott.«
    Der Traum.
    Das Böse.
    Es ist hier. Und es war in diesem Raum geschehen.
    »Der schwarze Mann! Ich habe geträumt. In der Nacht, in der Minx dich geweckt hat. Fili war bei mir und hat mich gewarnt. Sie sagte, der schwarze Mann ist wieder da. Es muss derselbe gewesen sein wie

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