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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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versenkte sie das Ungetüm – der Schlüssel selbst war leicht und klein, aber der Anhänger stellte einen röhrenden Hirsch auf einer handtellergroßen Messingmedaille dar – in ihrer Hosentasche.
    Leon wartete am Fuß der Treppe auf sie. Auf dem Weg zu ihm zählte sie die Türen: fünf links, fünf rechts. Zehn Zimmer waren also auf dieser Etage. Er ging voraus. Das Holzgeländer schmiegte sich in Nicos Hand, glatt poliert von Generationen, die hier schon hinauf- und herabgestiegen waren.
    »Wie alt ist der Schwarze Hirsch?«
    »Über hundert Jahre alt. Angeblich soll der Kaiser hier sogar mal ein Mittagsschläfchen gehalten haben.«
    Sie erreichten das Dachgeschoss. Die abgetretenen Dielen knarrten, als sie den Flur hinuntergingen.
    »Wo wohnst du?«
    Er deutete auf eine der Türen, an denen sie gerade vorbeikamen.
    »Zimmer vierunddreißig. Falls du Sehnsucht hast heute Nacht …«
    »Träum weiter.«
    Irgendwie gefiel ihr der Gedanke, wieder mit ihm unter einem Dach zu sein. Andererseits … Wenn Zach hinter den merkwürdigen Übergriffen steckte, war es vielleicht gar nicht klug zu bleiben. Also doch Schattengrund? Sie beschloss, die endgültige Entscheidung noch aufzuschieben.
    Leon blieb am Ende des Ganges stehen. Die Tür war kleiner als die zu den Gästezimmern. Früher war es vielleicht einmal eine Gesindekammer gewesen. Nico zog es das Herz zusammen, als sie daran dachte, wie abgeschoben Fili hier oben gewesen sein musste. Leon steckte den Schlüssel ins Schloss. Mit einem Klacken sprang der Riegel zurück.
    Leon drehte sich zu ihr um. »Sei nicht enttäuscht. Vielleicht ist es jetzt eine Wäschekammer oder so was. Willst du wirklich rein?«
    »Mach schon.«
    Er öffnete die Tür und tastete nach dem Lichtschalter. Eine Deckenlampe mit staubigem rosafarbenen Schirm beleuchtete die Kammer, die Nico so winzig vorkam, dass sie unwillkürlich den Kopf einzog. Die Wände waren schräg und mit Tapete beklebt. Links stand ein kleiner, uralter Schrank, in der Mitte unter dem Fenster ein Bett, rechts eine Kommode. Leon ging vor, Nico folgte ihm und sah sich um.
    »Hier war ich noch nie.«
    Sie setzte sich aufs Bett und strich mit der Hand über die billige Polyesterdecke. Am Kopfende reihten sich einige Plüschtiere auf: ein Teddy, ein Teletubbie – Nico lächelte, als sie das Wesen in die Hand nahm und sein Kopf hilflos herumbaumelte – und noch ein paar kleine, billige Häschen, lachende Kürbisse und Hunde. Darüber hing ein Regal: Bunte Bilderbücher, Malstifte, Pinsel und eine Puppe lagen auf den Brettern. Alles sah so aus, als ob die Bewohnerin dieses kleinen Zimmers gleich zurückkäme. Und trotzdem lag ein Grauschleier über den Dingen. Zwölf lange Jahre waren ins Land gegangen.
    Leon schloss die Tür und setzte sich neben sie. Er schwieg und sah sich um.
    »Eigentlich ganz hübsch. Einfach. Aber hübsch.«
    »Ja.« Nico legte das Teletubbie zurück. Es war sehr einfach. Sie dachte an die Berge von Spielsachen, die sie in ihrem Zimmer gehabt hatte. An die Poster an den Wänden. An ihren Schreibtisch, an dem sie für die Schularbeiten lernte. An das Leben, das sie in den vergangenen Jahren gelebt hatte – und das es für Fili nicht gegeben hatte. Sie fühlte sich so schuldig.
    »Warum lässt man ein Zimmer so?«, fragte sie in die Stille.
    »Wahrscheinlich, weil der Schwarze Hirsch zu viele hat. Insgesamt über zwanzig. Dazu noch die Gaststube. Ich glaube, Zach und Trixi konnten sich nicht davon trennen. Solange ein Kinderzimmer im Haus ist, ist vielleicht auch Fili für sie immer noch da.«
    »Glaubst du?«
    »Sie sind keine Ungeheuer. Okay, wir haben ziemlich Stress mit ihnen, und sie sind auch nicht die Verwandten, mit denen man bei einer Teerunde gerne angibt. Aber aller Zorn endet für mich an dieser unsichtbaren Mauer, die der Tod eines Kindes um die Eltern zieht. Vielleicht wollten sie Fili in diesem Zimmer nahe sein.«
    »Sie ist nicht mehr hier.«
    »Wie meinst du das?«
    Nico betrachtete die Märchenfiguren auf der Tapete. Schneewittchen, Dornröschen, der Froschkönig … »Vielleicht ist das bei anderen Leuten so, wenn sie die Zimmer ihrer Kinder so lassen. Aber ich habe das Gefühl, Fili ist nicht hier. Ihr Geist, ihre Seele, die Erinnerung an sie – ich kann das nicht spüren.«
    Leon beugte sich vor und legte die Unterarme auf die Knie. Er sah auf den Boden. Plötzlich strich er sich mit der Hand über die Augen. Vielleicht dachte er gerade an das kleine Mädchen, das lachend auf ihn

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