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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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zugerannt war. Nico wünschte sich, sie könnte die Hand ausstrecken und ihn berühren. Aber sie hatte Angst, es würde zu viel bedeuten. Ihr, ihm. Oder auch nicht. Um ihrer Verwirrung zu entkommen, stand sie auf und beugte sich zu dem Regal.
    »Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe?«
    »Was?«
    Leon sah hoch. Nico spürte, dass sie wieder einen dieser Sätze gesagt hatte, den sie bei ein wenig Überlegung ganz anders formuliert hätte. Sie nahm das Buch aus dem Regal. Es war an manchen Stellen aufgeplatzt und zerlesen. Fili musste es sehr gemocht haben.
    Sie zeigte es ihm. »Das war auch meine Lieblingsgeschichte. Ich hab dich so lieb bis zum Mond, sagt das Hasenkind. Und die Mutter antwortet: Und ich bis zum Mond … und wieder zurück.«
    Sie schluckte. Schnell drehte sie sich um, damit er nicht bemerkte, wie weh ihr dieses kleine, zerlesene Buch tat. »Ach, und die Wimmelbilder. Die fand ich auch cool. Es gab so furchtbar viel zu entdecken in ihnen. James Krüss! Der Sängerkrieg der Heidehasen. Das hat Trixi ihr bestimmt vorgelesen. Eine Fibel. Stimmt, Fili und ich waren in der ersten Klasse, als es …«
    Sie brach ab, weil sie die Fibel aufgeschlagen und auf der ersten Seite vier mühsam hingekritzelte Buchstaben entdeckt hatte. F. I. L. I. Die ersten Schreibversuche. Bisher war alles ein Albtraum aus einer lang vergangenen Zeit gewesen. Doch dieses mühsam errungene Wort, ihr Name, der Stolz, mit dem Fili ihn geschrieben haben musste, rührte sie und brachte etwas in ihr zum Klingen. Die Ahnung einer tiefen Liebe zu einem anderen Menschen, wie nur Kinder sie einander entgegenbringen konnten.
    Mehrere Blätter fielen heraus und segelten direkt vor Leons Füße. Mit tränenblinden Augen stellte Nico das Buch zurück. Sie war sich nicht mehr sicher, ob der Besuch in diesem Zimmer wirklich so eine gute Idee gewesen war. Er konfrontierte sie brutaler mit Filis Tod als die heilige Barbara oder das kleine Grab auf dem Friedhof. Sie hatte geglaubt, das aushalten zu können. Aber dieses Zimmer, in dem die Zeit eingefangen schien wie in einem Stilleben, brachte sie an ihre Grenzen. Was wäre, wenn das alles nicht geschehen wäre? Stünde sie jetzt vielleicht im Zimmer einer fröhlichen, jungen Frau, würde mit ihr lachen und reden, so wie mit Valerie?
    »Das silberne Grab«, sagte Leon. »War das nicht eins von Kianas Märchen?«
    Langsam drehte Nico sich um. Er hatte die Blätter aufgehoben und betrachtete sie interessiert. Wie in Trance ging Nico auf ihn zu. Sie konnte kaum glauben, was er in seinen Händen hielt. Es waren die letzten übrig gebliebenen Seiten von Kianas rätselhaften Märchen. Fili musste sie herausgerissen und in der Fibel versteckt haben. Nico erkannte ihr eigenes, selbstgemaltes Bild wieder: zwei Mädchen, Hand in Hand, vor einer geheimnisvollen Höhle.
    Leon reichte ihr die Blätter, und sie nahm sie so vorsichtig, als hätten sie einen Schatz wiedergefunden. Sie betrachtete die Zeichnung und hatte einen kurzen, unendlich kostbaren Moment lang noch einmal das Gefühl, an Kianas Tisch zu sitzen. Ein Kind zu sein, unschuldig, leichten Herzens, nicht ahnend, was wenig später geschehen würde und was nach Jahren als Geist einer bösen Erinnerung wiederauferstehen würde.
    Sie drehte das Bild um. Auf der Rückseite begann die Geschichte. Sie war handgeschrieben, und ihr Herz machte einen Sprung, als sie die Schrift erkannte. Kianas letztes Märchen. Das einzige, das die Zeit und den Schrecken überdauert hatte.
    »Ja.« Sie musste sich räuspern, so trocken war ihre Kehle geworden. »Sie hat es mir erzählt und später aufgeschrieben. Fili muss es aus dem Buch herausgerissen und hier versteckt haben. Aber warum?«
    »Vielleicht wollte sie es besitzen? Ich weiß noch, dass ich mal Oscar Wildes The Canterville Ghost komplett abgeschrieben habe, nur um die Geschichte zu behalten. Das Buch musste ich der Bibliothek zurückgeben. Aber das Heft besitze ich heute noch, mit allen Zeichnungen.«
    »Ich kann kaum glauben, dass ich es wiederhabe.« Atemlos betrachtete sie ihre Zeichnung. Die roten Stiefel. Von einem fehlte ein Stück – abgerissen, vielleicht in Eile? Oder in der Angst, entdeckt zu werden?
    Nico ließ sich neben ihn aufs Bett fallen. »Das ist mein Bild.«
    Es war ihr peinlich, dass er ihre Zeichnung betrachtete. Die beiden Kinder hatte sie als Strichmännchen gezeichnet, mit einem schiefen Dreieck als Kleid und ein paar Schlangenlinien, die von dem kreisrunden Kopf abgingen und die

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