Schattengrund
auf diesem Bild. Er wollte mich umbringen! Jemand will nicht, dass wir das hier finden!«
»Langsam, langsam. Jetzt bringst du aber ein paar Dinge durcheinander.«
»Nein!« Sie deutete auf die unheimliche Gestalt. »Dieser Schatten hier hat die Krähe in den Kamin geworfen. Es ist derselbe Schatten, der auch an Filis Bett gestanden hat. Fili wollte fort. Sie wollte ins silberne Grab, in den Stollen, der direkt ins Paradies führt. Weil … oh mein Gott.«
»Warum? Nico, warum?«
Nico schüttelte den Kopf und legte den Finger auf den Mund. Sie schloss die Augen. Die Erinnerungen schwebten in diesem Raum, wirbelten um sie herum wie durchsichtige, schwarze Schleier. Ein falsches Wort, ein falscher Schritt, und sie würden durch die Ritzen und Spalten verschwinden und nie mehr auftauchen. Der Geruch. An was erinnerte er sie? Erst vor Kurzem war er ihr wieder in die Nase gestiegen. Denk nach, Nico, denk nach. Wo war dir schon einmal so unheimlich zumute gewesen?
»Nico!«
Sie fuhr zusammen und öffnete die Augen.
»Was weißt du?«
Nico starrte auf das Blatt in ihrer Hand. Es war die Botschaft eines Kindes, das nicht sprechen und nicht schreiben konnte und das in seiner Not nur einen Ausweg und eine Zuflucht gesehen hatte.
»Kiana und ich waren ihr einziger Schutz«, flüsterte Nico. »Und das wurde ihr Verderben.«
Achtundzwanzig
Leons Zimmer unterschied sich in nichts von Nicos Unterkunft. Es war klein, spartanisch, nur mit dem Allernotwendigsten ausgestattet. Trotzdem mochte Nico diese Kargheit mehr als die zu Tode renovierten, birkefurnierten, abwaschbaren Allerweltshotelzimmer. Mit einer schlichten, neuen Tapete und ein paar kleinen Details wäre es sogar richtig gemütlich. Retro-Charme. Für Holzfäller, Skilangläufer und Romantiker. Doch es fehlten eine liebevolle Hand und der Blick für Kleinigkeiten. Der Lack auf den Heizkörpern blätterte ab, das Messing der Türklinken war stumpf und fleckig. Die Dielen müssten abgeschliffen und neu versiegelt werden. Und – Nico setzte sich auf das Bett, das unter ihrem Gewicht in der Mitte ächzend nach unten durchhing – neue Matratzen müssten her. Diese hier war wahrscheinlich hundert Jahre alt.
Allerdings gab es in Leons Zimmer ein Waschbecken. Er nahm zwei Zahnputzgläser von der Glasablage unter dem angelaufenen kleinen Spiegel und füllte sie mit Wasser. Aus der Nachttischschublade holte er einen Tauchsieder, schloss ihn an die Steckdose neben dem Waschbecken an und versenkte ihn im ersten Glas.
»Tee?«
Nico fühlte sich wie auf einer Zeitreise in die 60er-Jahre. Fehlten nur noch die Holzskier und ein Transistorradio mit ultralanger Antenne, aus dem »Es war in Napoli vor vielen Jahren« plärrte.
»Ja. Gute Idee.«
Die Heizung unter dem Fenster rauschte und knackte. Leon rührte mit dem Tauchsieder im Wasser herum. Als die ersten Bläschen aufstiegen, zauberte er einen Teebeutel hervor und gab ihn ins Glas. Er reichte es Nico, die den Beutel an seinem Faden herauszog und wieder fallen ließ. Das Wasser war lauwarm. Leon machte sich mit seinem Tee ähnlich viel Mühe. Als er fertig war, setzte er sich auf einen Holzstuhl, der vor einem wackeligen Tisch stand.
»Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte er schließlich.
»Missbrauch?«
Leon nickte. Nico war unendlich schwer ums Herz. Von all den schrecklichen Erkenntnissen, die sie in Siebenlehen gewinnen musste, war dies die schwerste. Mit ihrem eigenen Versagen konnte sie vielleicht noch umzugehen lernen. Aber dass einem Kind wehgetan worden war, dass ein Mädchen leiden musste und keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als sich in eine Zeichnung und ein aberwitziges Märchen zu flüchten, tat schneidend weh.
»Sie war doch erst sechs.« Nico schnürte es fast die Kehle zu. »Und es muss hier in diesem Haus passiert sein.«
»Vielleicht hatte sie auch nur eine blühende Fantasie?«
Die Zeichnung lag auf seinem Bett. Nico fürchtete sich, sie noch einmal anzusehen. Leon zog sie zu sich heran und studierte sie genau.
»Was soll es denn sonst sein?«, fragte Nico. »So einen Vorhang gibt es nirgendwo. Und man heult auch nicht deshalb. Es ist ein Mann. Er ist groß. Er steht an ihrem Bett. Er macht ihr Angst. Es ist ein schwarzer Mann.«
»Der schwarze Mann … Das klingt trotzdem sehr allgemein.«
Nico nahm ihm die Blätter ab und begann zu lesen.
»Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Haus im Tal und war so hübsch und zart, dass noch nicht einmal die Vöglein Angst hatten
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