Schattengrund
italienischen Eiscafé in dieses Kellerloch gebeamt und ihr auch noch den Erdbeerbecher genommen.
»Ich wollte mich nur mal umschauen.«
Trixi legte an und zielte. Allerdings schwankte sie dabei. »Was Bestimmtes?«
»Alte Fotos«, schoss es aus Nico. »Ich habe oben welche in der Gaststube gesehen. Hundert Jahre Schwarzer Hirsch, das sind ja auch hundert Jahre deutsche Geschichte.«
Ihr Lehrer wäre stolz auf sie. Aber Trixi schien das nicht zu beeindrucken. Nico spürte, dass die Frau nur auf ein falsches Wort, eine falsche Bewegung wartete. Deshalb rührte sie sich nicht. Das Adrenalin peitschte durch ihre Adern, ihr Atem ging flach, aber sie stand ganz still und versuchte, so unschuldig wie möglich auszusehen. Erstaunlich, wie Menschen sich in Momenten echter Gefahr verhielten. Hätte ihr noch vor ein paar Tagen irgendjemand erzählt, sie würde im Keller eines Hauses, in dem ein Verbrechen geschehen war, von einer Betrunkenen mit einem Jagdgewehr erwischt werden, die erkennbar Lust auf eine kleine zwischenmenschliche Tragödie hatte – sie hätte auf alles zwischen Schreikrampf und Zusammenbruch getippt. Und nun befand sie sich in einem heillosen Durcheinander von Kartons und versuchte, Trixi mit ein paar Taschenspielertricks davon zu überzeugen, sie nicht einfach abzuknallen. Was ihr im Übrigen nicht besonders gut zu gelingen schien.
»Das interessiert dich doch einen Scheiß. Was wir sind. Wer wir sind. Du kommst einfach her und spuckst uns ins Gesicht. Spuckst uns …«
Trixi wollte einen Schritt näher kommen, geriet aber schon beim ersten Versuch, über eines der Bücher auf dem Boden zu steigen, ins Taumeln. Noch bevor Nico auch nur die Spur einer Chance hatte, ihr näher zu kommen und die Waffe zu fassen zu kriegen, hatte die Frau sich wieder gefangen.
»Das stimmt nicht.« Ruhig sprechen, sanfte Bewegungen. »Ich bin gekommen, weil Kiana mir ihr Haus vererbt hat.«
»Die alte Hexe, ja.«
»Reden Sie nicht so von ihr!« Nico hob die Stimme. Vielleicht war es ein Fehler, aber auf Kiana ließ sie nichts kommen. »Sie war keine Hexe. Sie hatte mehr Herz und Verstand als ihr alle zusammen!«
»Was willst du damit sagen?« Trixi zielte wieder und dieses Mal hatte sie Nicos Magen im Visier. Sie war unberechenbar, völlig betrunken und – für Richter möglicherweise sogar im Recht.
»Sie hat eure Version der Geschichte nicht geschluckt.«
»Unsere Version«, äffte Trixi sie nach. »Unsere Geschichte. Wir haben uns das also alles nur ausgedacht, was? Dabei hab ich dich gesehen. Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie du mir mein Kind weggenommen hast. Du Monster. Du Ungeheuer.«
Im fahlen Licht sahen ihre kaputten Haare noch gelber und der Ansatz sah noch dunkler aus. Sie war blass und aufgedunsen. Geschwollene Tränensäcke, rot angelaufene Augen. Der Bademantel klaffte auf und offenbarte ein ausgewaschenes blassblaues Nachthemd. Andere gingen um diese Uhrzeit ins Theater. Oder Pizza essen. Trixi wurde einfach kurz mal wahnsinnig.
»Ich war ein Kind. Genauso alt wie Fili. Selbst wenn ich mit ihr weggelaufen bin, hat es Gründe gehabt.«
»Ja! Klar, Gründe. Du hast ihr diese Märchen erzählt, von denen sie Albträume bekommen hat. Du hattest sie von Kiana. Die hat uns doch immer gehasst. Damit fing es an. Verleumdungen. Gerüchte. So macht man Menschen tot. Und Kinder.«
Nico unterließ es, Trixi auf ihre kleine Unterscheidung hinzuweisen.
»Kiana hat euch nicht gehasst. Das bildet ihr euch ein.«
»Ach ja? Und dass sie noch kurz vor Filis Tod bei uns war und uns irgend so ein Gekritzel unter die Nase gehalten hat?«
»Was?«, fragte Nico. »Eine Zeichnung? Ein Bild?«
»Genau. Dabei hab ich alles aufgehoben, was Fili gemalt hat. Aber dieses Zeug … Das war nicht von ihr. Das habt ihr euch ausgedacht, um uns fertigzumachen.«
Trixi ließ das Gewehr sinken. Aus der Tasche ihres Bademantels holte sie ein zerknülltes und offenbar bereits benutztes Papiertaschentuch hervor und schneuzte hinein. Zu schnell, um Nico die Chance zu geben, ihr die Waffe wegzunehmen.
»Fili durfte nicht mehr zu euch. Zach hat sie eingesperrt, zu ihrem eigenen Schutz. Als ob er geahnt hätte, dass sonst was passiert. Aber sie ist uns entwischt. Wir haben nicht gut genug aufgepasst.«
Genau das hatte Stefanie auch Kiana vorgeworfen. Vielleicht lag darin der Ursprung der ganzen Tragödie: Sie hätten besser aufeinander aufpassen sollen.
»So teuflisch. So niederträchtig. Ja, du warst ein Kind.
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