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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Also war sie auf der richtigen Spur.
    Sie untersuchte den nächsten. Den dritten. Begann, die Kisten zur Seite zu schieben, und merkte, dass sie so nicht weiterkam. Das Jahr, das sie suchte, war beim bloßen Durchsehen nicht zu finden. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als dieses Gebirge Stück für Stück abzutragen. Mit einem leisen Fluch begann sie, die obersten erreichbaren Kisten herunterzuhieven. Einmal geriet der Stapel ins Wanken, und Nico konnte in letzter Sekunde verhindern, dass die nachlässig aufeinandergeworfenen Kartons sie unter sich begruben. Immer weiter arbeitete sie sich vor und verteilte die Kisten dabei über den ganzen Raum. Es war ihr egal, dass jeder mit einem Blick erkennen würde, dass hier nichts mehr so stand, wie es verlassen worden war. Wahrscheinlich hatten die Betreiber nach der Schließung des Schwarzen Hirschen den Keller kein einziges Mal mehr betreten. Und so, wie sie Zach und Trixi einschätzte, würden sie das auch in nächster Zukunft nicht tun.
    Sie zerrte einen weiteren Karton weg von den anderen und beugte sich hinunter, um die Aufschrift besser lesen zu können. Wieder nichts. Das alles hatte kein System und war auch nicht chronologisch archiviert. Es war einfach zusammengeworfen und entsorgt worden. Fast verließ sie der Mut. Dreißig, vierzig Jahre Buchhaltung, völlig durcheinander. Sie würde Tage brauchen, um sich da durchzuarbeiten.
    Müde und abgekämpft setzte sie sich auf einen Karton. Was für eine hirnrissige Idee! Sie hatte das Chaos eigentlich nur noch größer gemacht, als es schon war. Gerade wollte sie aufgeben und schweren Herzens den Keller verlassen, als die mürbe Pappe unter ihr nachgab und Nico auf dem Fußboden landete. Mit einem Fluch rappelte sie sich hoch. Aus der aufgeplatzten Seite waren mehrere dreckige, in Leder gebundene Folianten herausgefallen. Sie nahm einen hoch und traute ihren Augen nicht. Es waren Gästebücher. In fliegender Hast zog sie eines nach dem anderen heraus, pustete den Staub vom Einband und entzifferte den Aufdruck. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie den Band aus Filis Todesjahr in der Hand hielt.
    Er wog bestimmt mehrere Kilos, war groß wie ein Schulatlas und dick wie ein Telefonbuch. Aussichtslos, ihn unter die Jacke zu stecken und herauszuschmuggeln. Außerdem brauchte sie ja nur eine ganz bestimmte Seite. Sie schlug das Buch auf und erkannte, dass es eine Art Kalender war. Pro Tag eine Seite, manche fast bis zum unteren Rand beschrieben mit Namen, Adressen und Zimmernummern, andere auch halb leer.
    Erster bis dritter Januar, dachte sie. Das müsste reichen. Die Blätter hatten Einträge, aber sie hatte keine Zeit, sie zu lesen. Sie riss sie einfach heraus, faltete sie zusammen und stopfte sie zu den anderen in ihre Jackentasche. Dann begann sie, die Kisten wieder übereinanderzustapeln. Wer immer in den nächsten Jahren hier herunterkam – er sollte zumindest nicht auf den ersten Blick sehen, dass jemand die Unterlagen durchwühlt hatte.
    Sie hatte vielleicht die Hälfte geschafft, als sie in ihrem Rücken ein metallisches Geräusch hörte. Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Ein zweites Klicken. Nico ahnte, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Vorsichtig setzte sie den Karton, den sie gerade hochgehoben hatte, ab und drehte sich um.
    Im Türrahmen stand Trixi. Sie hielt ein Jagdgewehr in der Hand. Den Lauf hatte sie von der Schulterstütze abgeknickt, und das Klicken, das Nico gehört hatte, mussten die Kugeln gewesen sein, die Trixi gerade eingeführt hatte. Sie schwankte ein wenig, aber ihre Bewegungen waren sicher und tausendfach geübt. Sie brachte den Lauf zurück in seine Ausgangsposition und drückte den Sicherungsschieber in Richtung Mündung.
    »Gelernt ist gelernt.« Ihre Aussprache klang verwaschen, so, als ob sie nicht mehr ganz nüchtern wäre. »Schützenkönigin neunzehnhundertsechsundneunzig.«
    Es war unmöglich, an Trixi vorbeizukommen. Zwischen ihnen standen außerdem jede Menge Kisten. Hätte die Frau nicht gerade ein Gewehr in der Hand, Nico wäre durchaus bereit gewesen, ein schlechtes Gewissen zu haben oder zumindest etwas in diese Richtung vorzuspielen. Die Situation sah aber ganz danach aus, als ob das im Moment ziemlich wirkungslos wäre. Es war eindeutig, wobei Trixi sie erwischt hatte.
    »Hallo, Trixi.« Mehr fiel Nico nicht ein.
    »Hallo, Schlampe. Räumst du auf oder suchst du was Bestimmtes?«
    Nico sah sich um, als hätte ein böser kleiner Gott sie gerade aus einem

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