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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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irgendetwas peilen. Das Einzige, was in diesem Haus zu funktionieren schien, war die Großküche. Wahrscheinlich die letzte Investition, die sich zu allem Unglück wohl auch nicht mehr gerechnet hatte. So unbenutzt, wie sie aus-sah.
    Leons Bild tauchte vor ihr auf. Wie er am Herd stand, die Haare aus der Stirn strich und ihr etwas zu essen machte. Ihre Gespräche in der Küche, die so vertraut gewesen waren. Seine Hilfe. Sein Lachen. Sein überhebliches Grinsen, als er sie aus dem Schnee gefischt und in seinem Jeep nach Siebenlehen mitgenommen hatte. Ihr kam es vor, als ob sie sich schon Jahre kennen würden.
    Und dann diese Enttäuschung. Valeries Einwand ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie würde sie sich entscheiden, wenn jemand ihre Familie anklagen würde, einen solchen Frevel zugelassen und vertuscht zu haben? Sie würde auch wie eine Löwin kämpfen. Aber natürlich deshalb, weil sie von der Unschuld der ihren vollkommen überzeugt war. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, dass es anders sein könnte. Was für ein Glück, dass ihr das erspart geblieben war und sie eine Kindheit gehabt hatte, in der sie geliebt und beschützt worden war – trotz Filis Tragödie und, ja, auch davor, diese Tragödie zu verarbeiten. Ihre Eltern hatten es aus Liebe getan, nicht aus Gleichgültigkeit. Das war ein Unterschied, auch wenn ihre Reaktion ein Fehler blieb.
    Und deshalb bin ich hier, dachte Nico. Filis Schicksal darf nicht ungesühnt bleiben. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Aber der, der ihr das angetan hat, soll zur Rechenschaft gezogen werden. Und ich werde ihn finden. Das bin ich Fili und mir schuldig.
    Das Schloss war neu, der Schlüssel auch. Die Tür nicht. Sie quietschte und stöhnte in ihren verrosteten Angeln. Nur mit Mühe bekam Nico sie auf. Sie tastete die Wand ab und fand einen uralten Kippschalter, den sie umlegte. Ein paar Sekunden geschah überhaupt nichts. Bis ein Summen durch die dumpfe Stille drang, erst leise, dann immer lauter. Als Nico schon glaubte, es würde gar nichts mehr passieren, flackerte eine Neonröhre auf.
    Der Raum war so groß wie ein Fahrradkeller. Im trüben Licht erkannte sie am anderen Ende einen runden Mauerbogen und mehrere Stufen, die weiter hinein in die Gänge führten. An den Wänden standen, zusammengeschoben und aufeinandergetürmt, alte Tische, kaputte Stühle und hölzerne verblichene Sonnenschirme. Dahinter lehnten Dutzende von Gartenklappstühlen. Das Eisen war verrostet und die Farbe auf den Holzlatten blätterte ab. Nico glaubte, dass sie diese Stühle oben auf einem der Fotos gesehen hatte – Erinnerung an eine Zeit, in der sie neu gewesen waren und wohl keiner daran gedacht hatte, wo sie einmal landen würden.
    Sie durchquerte den Raum und kam an den Mauerbogen. Die steinernen Decken und Wände waren so dick, dass sie jedes Geräusch verschluckten. Sie warf einen letzten Blick auf das Sammelsurium von Sperrmüll – aber Akten und Bücher waren nirgendwo zu entdecken. Vor den schmalen Fenstern hingen rußige Spinnweben, die Dreckschicht auf dem Glas und den Mauervorsprüngen war zwei Finger breit. Im Licht der Neonlampe sah alles noch trostloser aus.
    Sollte sie wirklich weitergehen? Noch konnte sie umkehren. Aber diese Nacht war vielleicht die einzige Chance, das Geheimnis des Schwarzen Hirschen zu lüften. Freiwillig würde niemand von Leons Clan mit ihr reden. Es waren die Dinge, die sie zum Sprechen bringen musste. Fili hatte mit ihrem Bild den Anfang gemacht. Wenn Nico jetzt kniff, würde sie vielleicht nie erfahren, was vor zwölf Jahren in diesem Haus geschehen war.
    Der Gang hinter dem Mauerbogen war schmal und führte an verschiedenen, mit Holzlatten provisorisch abgeteilten Verliesen vorbei. In einigen standen Regale, in denen Nico Vorratskanister mit Öl oder Reinigungsmittel erkennen konnte. Ein zweiter großer Raum lag am Ende des Ganges. Sie fand den Lichtschalter auf Anhieb. Eine nackte Glühlampe hing an einer Leitung von der Decke. Mehrere Dutzend Umzugskartons standen zu einem schiefen, nicht sehr stabilen Gebirge an der Wand aufgetürmt. Die Kartons waren beschriftet, und als Nico sich ihnen näherte, spürte sie, wie eine diebische Freude in ihr wach wurde. Jahreszahlen. Ein wüstes Durcheinander, aber sie wusste ja, nach was sie suchte. Sie öffnete den Karton, der am nächsten stand. In ihm verstaut waren Aktenordner und Hefter. Steuerunterlagen, wie sie mit einem Blick auf die Rücken der Ordner feststellte.

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