Schattengrund
Hattest du kein Mitleid mit ihr?«
Trixi legte an. Nico wollte zurückweichen, aber sie hatte nicht mehr viel Platz. Die Kartons versperrten ihr den Weg. Sie starrte direkt in den Lauf der Flinte.
»Wenn Sie jetzt schießen, machen Sie auch nichts mehr ungeschehen.«
»Aber ich hätte sie gerächt. Meine Fili gerächt.«
»Das hätten Sie schon viel früher tun sollen. Als sie noch lebte.«
Trixis Kopf ruckte hoch, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. »Als sie noch lebte? Was soll denn diese Scheiße? Was? Ich war ihre Mutter! Hörst du, du dummes Stück Dreck?«
Sie spannte den Abzug. Nico taumelte zurück, geriet ins Straucheln, fiel und ein ohrenbetäubender Knall zerriss ihr fast das Trommelfell. Putz, Dreck und kleine Steine rieselten auf sie herab. Der Schmerz raste von ihrem Ellenbogen direkt in die Schulter. Einen fürchterlichen Moment lang glaubte Nico, die Kugel hätte sie erwischt. Sie hustete, weil der dichte Rauch ihr fast den Atem nahm, und bewegte vorsichtig ihren Arm. Kein Blut, keine Wunde. Sie war einfach nur unglücklich auf den Boden gefallen.
Trixi war durch den Rückschlag nach hinten geworfen worden. Nico rappelte sich auf, stürzte über die Kartons und warf sich auf die Frau, die unter dem Aufprall noch einmal zu Boden ging. Das Gewehr flog scheppernd durch die Gegend. Noch bevor Trixi begriff, was passiert war, hatte Nico die Waffe aufgehoben und auf ihre Angreiferin gerichtet. Ein Doppellauf. Gut. Das hieß, dass aller Wahrscheinlichkeit nach noch eine Kugel vorhanden war. Nico hatte nicht vor zu schießen. Aber das würde sie Trixi natürlich nicht auf die Nase binden.
»Aufstehen. Los.«
Doch Trixi stand nicht auf. Sie krümmte sich zusammen und begann zu wimmern. Der Rauch verzog sich langsam. Nico drehte sich um und bemerkte das Einschussloch in der Wand hinter ihr. Die Kugel hätte sie um mindestens einen halben Meter verfehlt, auch wenn sie noch gestanden hätte. Entweder konnte Trixi nicht schießen oder sie hatte nicht vorgehabt, sie zu töten.
Schritte kamen die Kellertreppe herab, laut, polternd, schnell.
»Hallo?«
Leons Stimme. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten – und in wie vielen gefährlichen Situationen hatte er sie schon überrascht? –, war Nico nicht froh, ihn zu sehen. Sie ließ das Gewehr sinken. Ihr Herzschlag musste bei 200 liegen. Sie rang nach Luft, aber der Pulverdampf vergiftete jeden Atemzug und biss in ihre Augen. Leon stürmte in den Raum, sah Trixi, die theatralisch aufheulte, und schließlich Nico, die Waffe in der Hand, den Finger am Abzug. Na großartig. Jetzt sah es auch noch so aus, als ob sie Jagd auf seine Familie machte. Er riss ihr das Gewehr aus der Hand und Nico ließ es widerspruchslos geschehen.
»Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen? Willst du sie umbringen?«
»Sie hat geschossen.« Nico deutete auf Trixi, die gerade versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und sich umsah, als fände sie sich weder in diesem Keller noch in diesem Leben zurecht. »Sie wollte mich abknallen. Verstehst du? Mich!«
Leon knickte mit einer einzigen Handbewegung den Lauf. Offenbar kannten sich alle in Siebenlehen auch noch mit Waffen aus.
»Wie kommst du hier runter? – Und wie kommst du …«, er wandte sich zu Trixi, die unter seinem Blick zusammensackte und in sich hineinwimmerte, »… an das Gewehr meines Vaters?«
»Waffenschrank«, schluchzte sie. »Hat hier rumgeschnüffelt und lässt und lässt es nicht. Sie soll weg. Weg. Ich ertrage das nicht mehr.«
Nico hatte Leon noch nie so wütend gesehen. Eigentlich noch gar nicht, gestand sie sich ein. Aber wenn er immer so aussieht, wenn ihm etwas gegen den Strich geht, dann gute Nacht, Marie. Sein Gesicht war weiß vor Zorn, seine Augen funkelten, und die Nasenflügel bebten, als ob er sich nur mühsam unter Kontrolle halten konnte.
»Was hast du hier zu suchen?«
Nico schob trotzig das Kinn vor. Sie würde kein Wort sagen. Nicht in Anwesenheit dieser Wahnsinnigen, die sie um ein Haar erschossen hätte – wahrscheinlich eher unabsichtlich, so betrunken wie sie war. Und erst recht nicht, solange Leon auf der falschen Seite stand.
Leon ließ einen Blick über die Kisten schweifen. Sie konnte ihm ansehen, dass er sich seine eigenen Gedanken machte. Er ging zu Trixi, packte sie am Arm und zog sie hoch. Schwankend kam Filis Mutter auf die Beine. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihre Pantoffeln waren schmutzig vom Kellerboden, der Gürtel ihres Bademantels
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