Schatteninsel
ging.
»Es wird sich schon alles regeln«, sagte Aaron. »Diese Leute sind nicht böse. Sie sind nur …«
Er nickte und suchte nach den richtigen Worten.
»Sie wissen, was sie wollen. Auf solche Leute sollte man hören. Es hat keinen Sinn, ihnen mit Arroganz zu begegnen.«
Jenni nahm all ihre Kraft zusammen, um die Hand zu heben, und hoffte, Aaron würde sie ergreifen.
Bring Miro von hier weg.
Sie versuchte zu sprechen, aber offenbar bewegten sich nicht einmal ihre Lippen, denn Aaron saß nur schweigend da. Dann stand er auf. An der Tür blieb er stehen.
»Ich kann nicht«, erklärte er.
Jenni hatte also doch gesprochen. Vielleicht hatte Aaron ihr die Worte von den Lippen abgelesen. Oder er wusste ohnehin, was sie sagen wollte.
»Du weißt, dass ich mir im Moment keinen Skandal leisten kann«, fuhr Aaron fort. Er stand reglos da, blickte über die Schulter, als wartete er auf Jennis Antwort. Wie praktisch. Wer schweigt, stimmt zu und so weiter. Wenn Aaron die Tür hinter sich schloss, würde nichts, was in diesem Zimmer gesagt worden war, ihn verfolgen.
»Es wird sich alles regeln«, wiederholte Aaron.
Die Tür fiel zu, und Jenni war allein. Sie dachte an Aaron und das Erbe und die Libellen und an die ziellose Bewegung, in der sich alles auf dieser Welt befand. Auch über Lisas Botschaft dachte sie nach und über die merkwürdige Tatsache, dass Lisa es tatsächlich beinahe geschafft hatte, Miro von hier fortzubringen. Auf das Festland, in die Stadt, dahin, wo es Sozialarbeiter gab und Polizisten und Menschen, die in großen Sälen an Monitoren saßen und Notrufe annahmen.
Bevor Jenni wieder einschlafen konnte, kam Miro herein.
»Heute war es ganz toll«, sagte er.
Jenni lächelte, denn Miro hatte seine Hand in ihre gelegt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihr Kind zuletzt berührt hatte.
»Ich durfte in der Kirche am Altar stehen und sagen, wer nackt ins Meer gehen muss und wer dort …«
Jenni bewegte die Hand, damit Miro verstand, wie sehr sie sich für ihn freute.
»Die sind ins Meer gegangen und wir haben ihnen die Spiegel gezeigt und sie mussten gestehen und …«
Jenni hörte nicht zu. Sie weinte nur und drückte Miros Hand.
Schließlich beugte der Junge sich über sie und flüsterte:
»Mutti, ich will nie mehr weg von hier.«
Ina sah oft nach Jenni, führte sie zur Toilette, half ihr beim Duschen und wechselte den Verband über dem linken Auge.
Jenni hätte Ina am liebsten angeschrien, sie beschimpft und alle Wunden aus der Kindheit freigelegt, doch dazufehlte ihr die Kraft. Stattdessen mühten sie sich gemeinsam mit Schwellen und Stufen ab, versuchten beim Duschen die richtige Wassertemperatur zu finden und den Gang zur Toilette so zu erledigen, dass Jenni ein Rest ihrer Würde blieb.
»Miro geht es wirklich gut«, sagte Ina und legte Jenni eine Decke unter die Schultern. »Er blüht geradezu auf.«
Jenni hätte Inas Kopf packen und so fest gegen die Wand knallen mögen, dass es blutete.
»Er kommt so gut mit den anderen Kindern aus.«
Trotz allem freute sie sich über Inas Beteuerungen. Keine ständige Sorge, keine Berichte über Raufereien, keine peinlichen Sitzungen mit den Eltern anderer Kinder.
Vielleicht war Miro wirklich glücklich. Vielleicht war die Insel der einzige Ort auf der Welt, wo Jenni nicht zu fürchten brauchte, dass ihr Kind zerbrochen wurde.
Vorläufig fiel es ihr noch sehr schwer, diesen Gedanken zu akzeptieren. Zum Glück gab es den Schlaf, den Grund, auf den sie sinken konnte.
Jenni erwachte aus einem Albtraum, in dem sie lebendig begraben worden war. Im Sarg unter der Erde vergessen. Niemand vermisste sie, eine unbedeutende Frau, die nicht fähig gewesen war, ihr Kind glücklich zu machen.
Es dauerte lange, bis Jenni begriff, dass die Dunkelheit keine Grabesfinsternis war, keine völlige Schwärze. Die Augen gewöhnten sich daran, erkannten das Fenster und die Formen der Möbel. Jenni kämpfte sich aus dem Bett. An den Schläfen und im Nacken flammte Schmerz auf. Die Gliedmaßen waren gefühllos und schwach, sie rebellierten gegen Jennis Willen, gehorchten mit Verzögerung.
Als sie endlich auf den Füßen stand, ging sie – mit kurzen unsicheren Schritten wie eine Greisin – zur Tür. Dort lehnte sie sich an die Wand und wartete, bis das Zimmer aufhörte, sich zu drehen. Dann legte sie die Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Die Tür war abgeschlossen. Natürlich war sie abgeschlossen.
Jenni begann zu schreien. Sie schrie immer
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