Schatteninsel
nach unten und zog ihm in der Diele Mantel und Schuhe an.
Als sie ihm die Schuhe zugebunden hatte, stand sie auf und blickte ans Ende des Flurs.
Ihre Haut prickelte. Ihre Lunge füllte sich mit kalter Luft.
Im Flur stand eine Frauengestalt, gebeugt, lächelnd, unbeweglich wie die Fische am Ufer.
»Mutti«, sagte Miro besorgt. »Das ist nur ein Spiegel.«
Jenni begriff, dass er recht hatte, doch sie bekam erst wieder Luft, als sie sich an der Wand abstützte und sah, dass die Frau im Spiegel dasselbe tat.
Vor dem Haus drückte Jenni auf den Knopf am Autoschlüssel. Die Scheinwerfer flammten kurz auf. Sie öffnete die Tür und hob Miro auf den Beifahrersitz, ging dann um den Wagen herum, um selbst einzusteigen. Als sie gerade die Hand auf den Türgriff legte, hörte sie eine Stimme.
»Wohin wollt ihr?«
Jenni drehte sich um. Ina stand am Waldrand, in einem roten Anorak und Stiefeln, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, mitten in der Nacht durch den Wald zu wandern. Jenni zog die Tür auf.
»Ich bringe euch morgen zum Festland«, sagte Ina und lachte ungläubig auf. »Um diese Zeit ist die Fähre gar nicht in Betrieb.«
Jenni stieg ein, verriegelte die Türen und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Die Scheinwerfer beleuchteten die Hauswand und ein Stück Wald rechts von ihr. Zwischen den Bäumen waren undeutliche Formen zu sehen, vielleicht Felsen, vielleicht reglos lauernde Menschen. Jenni erschrak, als Inas aufgeregte Stimme plötzlich unmittelbar an ihrem Ohr erklang.
»Mach keinen Unsinn, Jenni.«
Die eine Hand zog am Türgriff, die andere schlug gegen das Seitenfenster. Der Mund war zu einem ungläubigen Lächeln verzogen.
»Warum lässt du sie nicht rein?«, fragte Miro mit verschlafener Stimme.
Jenni sah ihren Sohn an und wollte ihm eine Erklärung geben, doch sie konnte es nicht. Woher zum Teufel solltesie wissen, warum sie dies oder das tat? Sie ließ den Motor an. Das Heck stieß polternd gegen irgendetwas, doch sie kümmerte sich nicht darum. Die Scheinwerfer richteten sich auf die Ausfahrt. Jenni gab Gas.
Im Rückspiegel betrachtete sie Inas Gestalt, die zitterte wie bei einem leichten Erdbeben und sie an den Tag ihrer Ankunft auf der Insel erinnerte. Jenni verringerte die Geschwindigkeit. Sie kannte die Mimik ihrer Schwester und sah, dass Ina ehrlich erschrocken war. Ihre Unentschlossenheit verfluchend, nahm sie den Fuß vom Gas und hielt an.
Inas Bild war im Spiegel zu sehen, im roten Schein der Bremslichter. Jenni starrte darauf, bis sie eine Bewegung auf der Straße wahrnahm. Am linken Rand des Lichtkegels kam etwas direkt auf sie zu. Jenni nahm eine Gestalt wahr, deren Kopf schneeweiß, eckig und im Vergleich zum Körper unverhältnismäßig groß war. Gleich darauf verschwand die Erscheinung in der Dunkelheit. Jenni blickte wieder in den Spiegel und sah, dass Ina sich vorbeugte und etwas rief. Sie wollte gerade wieder Gas geben, als die Gestalt in den Lichtkreis zurückkehrte. Sie war nun ganz nah, stand unmittelbar vor dem Wagen. Ein kräftiger Mann. Vor dem Gesicht eine seltsame höckrige Maske, auf die Mund und Augen gemalt waren. Der Anblick lähmte Jenni sekundenlang. Der eine Fuß wollte sich nicht von der Kupplung heben, der andere nicht auf das Gaspedal senken. Der Mann ging um den Wagen herum und hob die Arme. Jenni hatte gerade noch Zeit, zu erkennen, dass er etwas Schwingendes, Schweres in der Hand hielt. Dann zersplitterte die Windschutzscheibe.
Miro schrie. Jenni trat das Gaspedal durch. Das kann nicht wahr sein , dachte sie, die können nicht so verrücktsein, nicht so verrückt . Sie sah den Weg nur durch das rissige Glas und ein kleines Loch in der Scheibe. Links rutschten die Reifen in den Straßengraben, doch Jenni schaffte es, den Wagen wieder auf die Straße zu lenken. Sie schaltete das Fernlicht ein und blickte in den Rückspiegel. Zwei Gestalten kamen vom Grundstück auf die Straße. Die eine hielt etwas in der Hand, vielleicht einen Hammer. Doch sie nahmen die Verfolgung nicht auf, hatten offenbar begriffen, dass der Wagen schon zu weit weg war.
»Du hast dir doch nicht wehgetan?«, fragte Jenni und tastete im Halbdunkel nach Miros Gesicht. »Oder?«
Miro schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte Jenni und blickte in den Rückspiegel. »Jetzt fahren wir zur Fähre und dann nach Hause.«
Sie suchte in sämtlichen Taschen ihrer Jacke, fand ihr Handy jedoch nicht. Es war wohl auf dem Tisch im Gästezimmer zurückgeblieben. Jenni fluchte lautlos und
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