Schatteninsel
noch, als die Tür aufging und Ina hereinkam.
»Beruhige dich, Jenni. Du weckst Markus und Miro.«
Inas Hände lagen auf ihren Schultern und schoben sie zurück zum Bett. Jenni hatte nicht die Kraft, sich zu wehren, sie ließ sich zu dem Bett führen, das ihr gerade noch wie ein Sarg vorgekommen war. Ina deckte sie sorgsam zu wie ein Kind. Das tat sie bestimmt auch bei Miro. Die Ersatzmutter und Markus’ Ersatzgeliebte. Die ureigene Lucia der Einsiedler auf der Insel.
»Hast du Schmerzen?«, fragte Ina und streichelte Jennis Haare. »Ich kann dir von der Arznei bringen.«
Jenni schüttelte langsam den Kopf. Keine Arznei. Gerade die machte sie zum hilflosen Krüppel, unfähig, zu ihrem Kind zu gehen.
»Morgen bitte ich Miro, dich zu besuchen«, sagte Ina, als hätte sie Jennis Gedanken gelesen.
Jenni war nicht bereit, dankbar zu sein. Sie dachte an das Haus und an die Menschen, die sie nicht wecken durfte. Markus, Miro. Und an den, dessen Wagen vor dem Haus stand.
»Wo sind Lisa und Aaron?«, fragte sie.
Da Ina sie nicht zu hören schien, wiederholte sie die Frage.
Die Hand, die ihr über die Haare strich, hielt inne, setzte dann ihre ruhige Bewegung fort.
»Aaron ist weggefahren«, antwortete Ina. »So ist es für alle am besten.«
Jenni erinnerte sich an Aarons Rücken. Es wird sich alles regeln. Einfach den Fuß aufs Gas, den Blick auf die Straße.
Über Lisa äußerte Ina sich nicht, und Jenni hatte keine Kraft nachzufragen. Sie dachte an das Spiegelbild im Türfenster, die auf der Erde kauernde Frau, die zum Schlag erhobene Hand des Mannes. Ina verstand sich darauf, alle schwierigen Menschen beiseitezuschaffen, Gesichter auszuradieren wie auf dem Wandgemälde in der Kirche. Was hatte Ina über Markus’ Zustand gesagt? Als würde sein Körper sich selbst vergiften . Nun, da man einen neuen Prediger gefunden hatte, würde er sich vermutlich endgültig vergiften. Jenni stellte sich vor, wie Ina mit Unschuldsmiene Markus’ Arznei zubereitete. Bestimmt wusste sie genau, welche Substanzen sie daruntermischen musste. Jenni klammerte sich an der Vorstellung fest. Sie begriff, was sie tun musste.
»Ina«, flüsterte sie mühsam.
»Ja?«
»Es ist das Beste, dass Miro hierbleibt.«
Ina lächelte im Zwielicht.
»Der Meinung bin ich auch«, antwortete sie vorsichtig.
Ihre Stimme klang gerührt.
»Genau derselben Meinung«, wiederholte sie, »und alle anderen auch. Miro hört Jakob Mörts Stimme. Es ist ein Wunder. Ich habe manchmal am Glauben gezweifelt, aber jetzt weiß ich wieder, dass dieser Ort gesegnet ist. Inzwischen haben sich sogar Weltliche zum wahren Glauben bekehrt, zum ersten Mal seit Jahrzehnten.«
Wie schön.
»Heute haben wir Mörts Schädel in die Kirche gebracht, und Miro hat ihn angehört und berichtet, was der Prophet gesagt hat. Ich habe geweint vor Glück. Denk mal nach! Es war ja schon ein Zeichen, dass Miro den Schädel sofort gefunden hat, als er herkam. Er ist schnurstracks zu ihm gegangen.«
Er hat mich gebissen.
Ina strich noch einmal über Jennis Haare und stand auf.
»Ich hab dich lieb«, sagte sie. »Schlaf jetzt.«
Die Zimmertür fiel zu, und Jenni lag wieder in ihrem Sarg. Aber dort, unter der Erde zurückgelassen, spulte sie das Zufallen der Tür so oft in Gedanken ab, bis sie sicher war: Diesmal hatte Ina nicht abgeschlossen.
Jenni schlief nicht sofort ein. Sie lauschte ins Zwielicht. Irgendwo sprach jemand. Inas Stimme, nur ihre. Sie wanderte irgendwo im Erdgeschoss umher, entfernte sich und wurde dann wieder lauter, brach zwischendurch ab. Die Worte waren nicht zu hören, doch das war auch nicht nötig. Jenni wusste, was Ina am Telefon erzählte.
Der Engel verkündete ihnen eine große Freude. Welch Jubel im Himmel und auf Erden.
Jenni lag da und lauschte. Das letzte Bild, das ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf ging, war das der Frau mit dem unsicheren Lächeln und dem Kind im Arm. Alles passte zusammen. Das unsichere Lächeln, der mystische Vater.
Nur eines irritierte Jenni. Sie war sicher, dass das Bild nicht Lisa zeigte.
Diese Erkenntnis kam ihr an der Grenze zum Schlaf, als unbestreitbare Selbstverständlichkeit. Jenni wusste nicht, woher sie kam und was sie bedeutete. Doch es stand fest, dass sie der Frau auf dem Foto nie begegnet war.Am nächsten Morgen flößte Ina Jenni nichts mehr ein. Sie kam ins Zimmer, in seltsamer altertümlicher Kleidung, als wollte sie auf einer Laienbühne auftreten, brachte Jenni zur Toilette und zum Duschen und dann
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