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Schattenjahre (German Edition)

Schattenjahre (German Edition)

Titel: Schattenjahre (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Penny Jordan
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dieses Gefühl, indem sie sich einredete, es sei ihr gutes Recht, so zu empfinden, die Mutter trage die Schuld an der Situation, nicht sie selbst?
    „Miss Danvers?“
    Sie zuckte zusammen, als sie die ungeduldige Männerstimme hörte. An männliche Aufmerksamkeit gewöhnt, fand sie die routinierte Professionalität des Arztes verwirrend. Sie selbst sah in ihrer mysteriösen Sinnlichkeit, die so viele Männer anlockte, eine fragwürdige Qualität. Denn sie entfachte nur Begierde, nicht Liebe. Bitterkeit regte sich in ihr – eine alte Wunde, die nie verheilt war. Um diese Emotion zu verdrängen, fragte sie betont kühl: „Meine Mutter …?“
    „Vorerst lebt sie noch“, unterbrach er sie. Jetzt musterte er sie etwas genauer – ein großer, schlanker Mann, höchstens sieben Jahre älter als sie, aber in seinem Beruf vorzeitig gereift, offenbar begabt und intelligent. Aber im Moment wirkte er vor allem erschöpft und unduldsam. Angst verscheuchte Sages instinktives Mitleid, als er fortfuhr: „Bei der Einlieferung war sie bewusstlos. Wir haben noch keine Ahnung, ob sie schwere innere Verletzungen erlitten hat.“
    „Keine Ahnung …“, Sage schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber …“
    „Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, sie am Leben zu erhalten. Deshalb konnten wir bisher nur oberflächliche Untersuchungen durchführen. Sie ist eine starke Frau, sonst wäre sie längst tot. Im Augenblick ist sie bei Bewusstsein. Sie hat nach Ihnen gefragt. Deshalb wollte ich Sie sprechen. Ernsthaft gefährdete Patienten reagieren äußerst sensitiv auf Anzeichen von Kummer oder Furcht bei ihren Besuchern – insbesondere bei nahen Verwandten.“
    Sie hob erstaunt die Brauen. „Meine Mutter hat nach mir gefragt?“
    „Ja“, bestätigte er und runzelte die Stirn. „Es war verdammt schwer, Sie aufzuspüren.“
    Die Mutter hatte nach ihr gefragt. Sage verstand das nicht. Warum? Man sollte meinen, sie hätte nach Faye verlangt, Davids Witwe, oder Camilla, der Enkelin. Aber niemals nach ihrer Tochter. „Meine Schwägerin …“, begann sie, um ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch der Arzt hob brüsk und abwehrend die Hand.
    „Sie wurde benachrichtigt, aber vorläufig darf Ihre Mutter nur in äußerst begrenztem Umfang Besuch empfangen. Anscheinend hat sie etwas auf dem Herzen – etwas, das sie bedrückt. Bei einer so schwer verletzten Patientin müssen wir alles tun, was ihre Genesungschancen verbessert. Deshalb möchte ich Ihnen eine wichtige Anweisung geben. So geringfügig oder unerklärlich es Ihnen auch erscheinen mag, was Ihre Mutter sagen wird – versuchen Sie, sie zu trösten und zu besänftigen. Sie muss inneren Frieden finden.“
    Sein Blick verriet ernsthafte Zweifel an Sages Fähigkeit, diese Forderung zu erfüllen – Zweifel, die sie teilte.
    „Wenn Sie mir folgen würden …“ Er führte sie einen schmalen, leeren Korridor hinab, und es amüsierte sie ein wenig, weil er einen größeren Abstand hielt als nötig. Schüchterte sie ihn ein? Er wäre nicht der erste Mann gewesen, der so auf ihre Gegenwart reagierte. All die netten Männer, bei denen sie vielleicht kein Glück, aber zumindest Zufriedenheit hätte finden können, waren ihr mit dieser seltsamen Vorsicht begegnet. Natürlich lag es an ihrem Aussehen. Sie konnten nicht hinter die Fassade schauen, hinter die gefährliche Sinnlichkeit. Und sie glaubten, Sage würde niemals Zärtlichkeit brauchen, keine Schwächen verzeihen. Das stimmte natürlich nicht. Sie selbst war viel zu verwundbar, um die Achillesferse anderer zu verdammen. Und was die Zärtlichkeit betraf … Sie lächelte bitter. Nur sie allein wusste, wie oft sie sich nach diesem Heilmittel gesehnt hatte.
    „Hier entlang“, sagte der Arzt. Sie erreichten die Intensivstation. Sage erschauerte, als er die Tür öffnete. Das instinktive Bedürfnis, kehrtzumachen und davonzulaufen, verlangsamte beinahe ihre Schritte.
    Hinter irgendeiner dieser geschlossenen Türen lag die Mutter. Hatte sie wirklich nach ihr verlangt? Das war unfassbar – ein Schock, der Sages Schutzschild erschütterte. Dieser Schild wappnete sie, seit der Schmerz über Liz’ Verrat die widerstrebende, qualvolle Liebe vernichtet hatte.
    Ein neuer Schauer ließ sie frösteln, als sie an das fremdartige Bild dachte, das der Arzt von ihrer Mutter gezeichnet hatte. Ein schwerverletzter, leidender Mensch musste doch nach demjenigen fragen, den er am meisten liebte. Und seit Sage denken konnte, wusste sie, dass die

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