Schattenjahre (German Edition)
tatsächlich liebenswert gewesen. Sie hatte ihn nie beneidet, nie den Eindruck gewonnen, die Mutter würde sie mehr lieben, wäre er nicht da gewesen. Also konnte die Kluft zwischen Liz und ihrer Tochter nicht mit Sages Eifersucht auf den bevorzugten Bruder erklärt werden.
Früher hatte es wehgetan, dieses Wissen, dass irgendetwas an ihr die Liebe der Mutter, die allem und jedem galt, in Abneigung, sogar Feindschaft verwandelte. Später hatte Sage gelernt, das zu akzeptieren, die schmerzliche Vergangenheit zu begraben. Sie vermied jeden überflüssigen Kontakt mit der Mutter, fuhr nur noch selten heim nach Cottingdean.
Cottingdean, das Haus, der Garten, das Dorf – alles die Domäne der Mutter, alles vom Willen der Mutter geschaffen und instand gehalten. Die Welt der Mutter.
Cottingdean – wie sehr hatte Sage während der Kindheit diesen Ort gehasst, der ihrer Mutter so viel abverlangte. All ihren Neid und ihre Abneigung hatte sie darauf konzentriert. Damals noch unfähig, die Barriere zwischen sich selbst und Liz zu analysieren, hatte sie geglaubt, Cottingdean trüge die Schuld an der schrecklichen Situation, weil das Anwesen der Mutter mehr bedeutete als die Tochter.
Vielleicht stimmte es. Warum auch nicht, dachte sie jetzt zynisch. Sicher hatte Cottingdean der Mutter all die darin investierte Zeit und Hingabe vergolten, so wie die Tochter es nicht vermochte.
Cottingdean, David und der Vater waren das Wichtigste in Liz’ Leben gewesen, und Sage hatte stets darunter gelitten, abseits zu stehen – eine Außenseiterin zu sein, ein Eindringling.
Sie stieß die Tafelglastür auf, ging zum Empfang der Klinik und nannte ihren Namen. Eine junge Krankenschwester blickte nervös auf eine Liste, bevor sie erklärte. „Ihre Mutter liegt auf der Intensivstation. Wenn Sie hier warten könnten – der Arzt würde gern mit Ihnen sprechen.“
Schon vor langer Zeit hatte Sage gelernt, sich zu beherrschen. Und so verriet ihre Miene nichts von ihren Gefühlen, als sie der Schwester dankte und auf einer Bank Platz nahm. War die Mutter schon tot? Wollte der Arzt deshalb zum Empfang kommen? Unerwünschte Emotionen stiegen in ihr auf, eine Panik, die sie drängte, sich gehen zu lassen und wie ein Kind zu weinen. Nein, noch nicht, dachte sie, es gibt zu vieles, was ich noch wissen möchte – zu vieles, was gesagt werden muss …
Das war lächerlich angesichts der Tatsache, dass Sage und ihre Mutter längst alles gesagt hatten, worauf es ankam. Sie selbst hatte vielleicht zu viel in Worte gefasst, zu viel enthüllt, war zu tief verletzt worden.
So ausdruckslos ihr Gesicht auch blieb, irgendetwas an ihr verriet den inneren Aufruhr. Das dunkelrote Haar schien vor Vitalität und Energie zu sprühen, die grünen Augen – von wem sie die geerbt hatte, wusste niemand – wirkten so veränderlich wie die tiefen Seen im Norden unter dem Frühlingshimmel. Gelegentlich warf die junge Schwester einen Blick auf Sage und beneidete sie. Sie selbst war klein, hübsch und ein bisschen rundlich. Niemals konnte sie die Ausstrahlung dieser eleganten Frau erreichen, diese Schönheit, die weder mit Jugend noch mit modischem Chic zusammenhing, sondern nur mit den klassischen Zügen, der Augen- und Haarfarbe, den Bewegungen, die in magnetischer Weise Aufmerksamkeit erregten.
Irgendwo in diesem großen anonymen Gebäude liegt meine Mutter, dachte Sage, so unfassbar mir das auch vorkommt. Liz war ihr stets unsterblich erschienen, ein Angelpunkt, um den so viele Schicksale kreisten. Auch das Leben der Tochter, bis sie rebelliert und sich losgerissen hatte, um ein eigenständiger Mensch zu werden. Ja, die Mutter hatte immer unzerstörbar und unverletzlich gewirkt, ein unabänderlicher Teil des Universums. Die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter, die perfekte Chefin – ein Vorbild für so viele Leute, die diesem Beispiel verzweifelt nacheiferten. Und sie hatte dies alles trotz der Hindernisse erreicht, die sich der Generation Sages niemals entgegenstellen würden. Liz war ihrer Zeit um dreißig Jahre voraus gewesen. Sie heiratete einen todkranken Mann und erhielt ihn über fünfundzwanzig Jahre am Leben, übernahm ein allmählich verfallendes Landgut und verwandelte es in ein florierendes Unternehmen. Nur ein zielstrebiger, entschlossener Mensch mit Visionen konnte ein solches Wunder vollbringen.
Lag darin die Wurzel der Abneigung zwischen Sage und ihrer Mutter? War sie neidisch auf Liz’ Talente gewesen, auf deren Leistungen? Maskierte sie
Weitere Kostenlose Bücher