Schattenjahre (German Edition)
hinzugefügt. Aber die steinerne Fassade mit der massiven Eichentür und den alten Fenstermittelpfosten war stets gleich geblieben, aus Mangel an Geld oder an Initiative.
Die Auffahrt führte zur Hinterfront, in den Hof, den die Ställe und übrigen Nebengebäude einrahmten. Nichts dergleichen behinderte die Aussicht, die man an der Vorderseite genoss.
Sages Mutter behauptete, den besten Eindruck von Cottingdean gewinne man, wenn man sich zu Fuß nähere, auf der Brücke, die den Fluss überspannte, durch das Holztor in der Gartenmauer. Dann tauchte das Bauwerk zwischen den gestutzten Eiben auf, die den Weg zur Terrasse und zum Vordereingang säumten.
Bei Liz’ Ankunft in Cottingdean war der jetzt so berühmte, viel bewunderte Park ein Durcheinander aus Unkraut und nutzlosen Gemüsebeeten gewesen. Das konnte man sich kaum vorstellen, wenn man jetzt den glatten, leuchtend grünen Rasen mit den scheinbar willkürlich verteilten Bäumen sah, die Eibenhecken, die eine geheimnisvolle Atmosphäre erzeugten. Dies alles war Liz’ Werk und keineswegs, wie manche glaubten, dem Geld ihres Mannes und der harten Arbeit anderer Leute zu verdanken. Nein, zum Großteil hatte sie den Park eigenhändig umgestaltet.
Im Hof wurde Sage von Faye und Camilla, die sie von ihrer Ankunft benachrichtigt hatte, erwartet. Sobald sie aus dem Wagen stieg, eilten beide zu ihr. „Wie geht es Gran?“, riefen sie wie aus einem Mund.
„Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er weiß noch nicht, wie schwer ihre inneren Verletzungen sind. Wenn wir ihn heute Abend anrufen …“
„Wann dürfen wir sie besuchen?“, fragte Camilla eifrig.
„Der Arzt meinte, sie könne erst Besuch empfangen, wenn sich ihr Zustand mindestens achtundvierzig Stunden lang stabilisiert hat.“
„Aber du warst doch bei ihr“, wandte Camilla ein.
Sage legte einen Arm um die Schulter ihrer Nichte. Davids Tochter bedeutete ihnen allen sehr viel. „Nur weil sie mich sehen wollte. Der Doktor sorgte sich, weil sie etwas auf dem Herzen hatte …“
„Was?“
„Camilla, lass Sage erst mal ins Haus gehen und Platz nehmen, ehe du sie einem Kreuzverhör unterziehst“, ermahnte Faye ihre Tochter sanft. „Heutzutage ist es kein Vergnügen mehr, von London hierher zu fahren, in diesem dichten Verkehr … Ich weiß nicht, was du vorhast, Sage. Aber ich habe Jenny für alle Fälle gebeten, dein Zimmer herzurichten.“
„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Sage folgte ihrer Schwägerin in die Halle und blieb kurz stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel in dem holzgetäfelten Raum gewöhnt hatten, der sich bis zum Hinterausgang erstreckte. Nach der Ankunft ihrer Mutter in Haus Cottingdean hatte man beinahe ein Jahr gebraucht, um den dicken Anstrich von den alten Paneelen zu entfernen. Nun schimmerte das Holz warm und matt, und sein Anblick weckte den Wunsch, es zu berühren.
„Ich habe Jenny beauftragt, den Tee im Wohnzimmer zu servieren.“ Faye öffnete eine Tür. „Hast du dir unterwegs Zeit für den Lunch genommen?“
Wortlos schüttelte Sage den Kopf. Sie verspürte nicht den geringsten Appetit.
Das Wohnzimmer lag an der Westseite. Es war in verschiedenen Gelb- und Blauschattierungen gehalten, ein sonniger Raum mit Möbeln aus verschiedenen Epochen, die so aussahen, als wären sie füreinander bestimmt – was auf ein weiteres Talent der Hausherrin hinwies.
In dem gemütlichen Zimmer dufteten spät erblühte Topfhyazinthen, deren Farbe haargenau das Lavendelblau des Teppichs wiederholte. Ein Kaminfeuer verstärkte die einladende Atmosphäre, schmiedeeiserne Gitter verbargen diskret die Zentralheizung. Faye und ihre Schwägerin setzten sich in Polstersessel.
„Erzähl uns von Gran“, verlangte Camilla und hockte sich zu Sages Füßen auf einen damastbezogenen Schemel. „Wie geht es ihr?“ Sie war ein hübsches Mädchen, blond wie ihre Mutter, aber viel vitaler. Die schönen Gesichtszüge und die grauen Augen hatte sie von der Großmutter geerbt. „Sie wird doch wieder gesund?“
Sage zögerte und begegnete Fayes Blick, über Camillas Kopf hinweg. „Ich hoffe es.“ Tröstend fügte sie hinzu: „Sie ist sehr stark. Und wenn jemand den Willen hat zu kämpfen, am Leben festzuhalten …“
„Wir wollten sie besuchen, aber eine Krankenschwester erklärte uns am Telefon, Gran habe nach dir verlangt.“ Camilla schaute Sage ebenso erwartungsvoll an wie ihre Mutter.
„Sie sagte, wir … wir alle sollten ihre Tagebücher lesen. Das musste ich ihr
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