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Schattenkampf

Titel: Schattenkampf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lescroart
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später manchmal sogar als Ron von ihm - ein lebendiges, atmendes menschliches Wesen, dem frühzeitig das Leben genommen worden war. Umgekehrt würde Evan
Scholler forthin immer »der Angeklagte« bleiben oder sogar, noch stärker entpersönlicht, nur »Angeklagter« - ein klinischer Begriff, der die Stellung in der Gesellschaft beschrieb, auf die er gesunken war. Ein gesichts- und namenloser Pervertierer der gesellschaftlichen Ordnung, der nur die allerkursorischste Anerkennung als menschliches Wesen verdiente und keinerlei Mitgefühl.
    Wieder einmal in der Mitte des Gerichtssaals angelangt, blieb sie stehen und stellte fest, dass Washburn sie die ganze Zeit hatte reden lassen, ohne ein einziges Mal Einspruch zu erheben. Dahinter, wusste sie, steckte wohlüberlegtes Kalkül, das den Geschworenen signalisieren sollte, dass sich die Verteidigung ungeachtet dieser den Angeklagten nur zu offensichtlich verdammenden Litanei ihrer Sache sehr sicher war - ja, sich von diesen Behauptungen nicht im Geringsten beeindrucken ließ.
    Mit einem theatralischen Seufzen gestattete sich Mills wieder einmal einen Blick zur Anklagebank, aber aus ihrer Miene sprach nichts als Traurigkeit und Resignation. Niemand hätte gern die Dinge zur Sprache gebracht, die sie den Geschworenen gerade zur Kenntnis gebracht hatte. Die Natur des Menschen war manchmal eine schreckliche Bürde. Mills hatte ihre unerfreuliche, aber unerlässliche Pflicht getan und hoffte nun, den verderbten Angeklagten seiner gerechten Strafe zu überführen und dem Opfer und all jenen, die ihn geliebt hatten, Genugtuung zu verschaffen.

    Washburn hatte die Wahl, entweder sofort mit dem Eröffnungsplädoyer der Verteidigung zu beginnen oder zunächst die Anklage den Fall aus ihrer Sicht darstellen zu lassen und es erst dann zu halten. Nachdem sich Mills gesetzt hatte,
fragte ihn Tollson, was er tun wolle, und er erklärte, er werde sein Plädoyer jetzt sofort halten. Er wollte nicht, dass die Geschworenen zu lange mit nur einer Darstellung des Sachverhalts konfrontiert wären, ohne darauf hingewiesen zu werden, dass es auch eine andere Sicht der Dinge gab. Wenn die Anklage ein unwiderlegtes Eröffnungsplädoyer hielt und dann eine Woche oder länger Gelegenheit erhielt, ihre Zeugen aufzurufen, wäre er die ganze Zeit in die Defensive gedrängt. Aber er wusste nur zu gut, dass man mit so einer passiven Haltung nicht allzu viele Prozesse gewann.
    Doch unter Berücksichtigung seiner bisherigen Strategie, Unterbrechungen und Einsprüche zu vermeiden, gab er dem Richter seine Entscheidung, das Eröffnungsplädoyer sofort zu halten - Begeisterung, seinen unschuldigen Mandanten zu verteidigen! -, erst bekannt, nachdem er die Zuschauer mit der flapsigen Bemerkung zum Lachen gebracht hatte: »Nach Miss Whelan-Miilles wortreichem Eröffnungsplädoyer, Euer Ehren, könnte die Blase eines armen alten Hinterwäldleranwalts allerdings gut eine kleine Pause vertragen.« Und das verlieh natürlich seiner Meinung Ausdruck, dass das Plädoyer der Anklage seinen Mandanten in keiner Weise anfocht oder seine Unschuld auch nur infrage stellte. Zu all dem käme der Verteidiger gleich in seinem eigenen Eröffnungsplädoyer, das jegliche lästigen kleinen Widersprüchlichkeiten, die auf Evan Schollers Schuld hindeuten könnten, aus dem Weg räumen würde.
    Aber erst einmal musste er pinkeln.
    Obwohl er das in Wirklichkeit nicht musste.
    Der Richter räumte ihnen fünfzehn Minuten ein, und Washburn und Evan nutzten die Gelegenheit, durch den
Hinterausgang des Saals in die kleine Zelle zu gehen und sich auf den kalten Betonblöcken, die als Bänke dienten, einander gegenüber zu setzen. Washburn hatte sich zwar sorgfältig rasiert, dabei aber eine ziemlich gut zu sehende Stelle an der Kieferkante übersehen, die inzwischen schon drei Tage Zeit zu sprießen gehabt hatte. Zudem sah der Verteidiger, grundsätzlich nicht zu einem flamboyanten Kleidungsstil neigend, in seinem zu großen weizenfarbenen Anzug und der grotesken orangefarbenen Krawatte an diesem Morgen - und daran würde sich auch an den kommenden Verhandlungstagen nichts ändern - besonders zerzaust aus. Seine zehn Jahre alten Schnürschuhe hatten ausgefranste Senkel und löchrige Sohlen, so dass er nur ein Bein über das andere zu schlagen brauchte, um sich als stinknormaler Typ zu erkennen zu geben. Geschworene, glaubte er, mochten keine elegant gekleideten Verteidiger. Sie standen auf ganz normale Leute, die Klartext redeten und nicht

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