Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Luft.
»Werd mir die Angelegenheit erst mal nicht näher ansehen können«, sagte er und ging zur Tür. »Aber die läuft ja nicht weg. Leider.«
Jetzt lächelte er wieder breit und hob die rechte Hand zum Gruß.
»Sie haben es hier ja ein bisschen trist«, sagte er. »Hängen Sie doch ein Plakat auf oder so. Viel Glück bei was immer Sie hier treiben.
»Ja«, sagte Henrik kleinlaut. »Danke.«
Die Tür fiel zu, und er war allein.
Mehr allein denn je, so kam es ihm vor. Seine Theorie, Jon Mohr könne gestresst gewesen sein, weil gegen ihn ermittelt wurde, hatte sich also erledigt. Erstens wusste der Mann nichts davon, zweitens war es alles andere als sicher, dass er eine Straftat begangen hatte.
Fehlschuss.
Zwei Armbrüche, ein zerschundener Rücken und eine Brandwunde waren alles, was Henrik Holme noch hatte. Nicht viel, um damit auf den Tisch zu hauen, jedenfalls nicht als Grundlage für den Verdacht auf Kindesmisshandlung. Natürlich müsste er sich auch beim öffentlichen Notdienst erkundigen, aber Jon Mohr hatte ja gesagt, dass sie immer zu Volvat gingen. Die Gefahr, dass er da gelogen hatte, war minimal, der Mann wirkte ja nicht gerade wie ein Idiot.
In gewisser Weise begriff er selbst nicht, warum dieser Fall ihm überhaupt so wichtig war. Während der ersten Phase, bei seinen einsamen Ermittlungen eine Woche zuvor, war er vor Angst wie gelähmt gewesen. Henrik wusste nicht, was passiert wäre, wenn die Polizeijuristin sich nicht eingeschaltet und die Sache in eine Art System gebracht hätte. Seine Enttäuschung darüber, dass er nicht an demselben Fall arbeiten durfte wie alle anderen, hatte sich allmählich gelegt. Er durfte ermitteln, zum ersten Mal in seinem Leben, und die entsetzlichen Umstände gaben ihm die Möglichkeit, alles ganz allein zu entscheiden. Es war spannend, ganz einfach. Er fühlte sich wie ein echter Polizist, und das kam nicht gerade häufig vor. Nie, wenn er ehrlich sein sollte.
Aber etwas war geschehen. Im Laufe der Tage war ihm das unangenehme Gefühl gekommen, dass an dem Verdacht, mit dem er Jon Mohr am Samstagabend auf so ungeschickte Weise konfrontiert hatte, etwas Wahres sein könnte.
Das Gespräch mit der Großmutter des Jungen hatte Henrik zwar rein gar nichts gebracht. Das Einzige, was er von seinem Besuch in Vinderen mitgenommen hatte, war ein Eindruck von Sander. Bei der alten Dame hing ein Foto im Flur, und etwas am Blick des Jungen hatte ihn berührt. Von allen Seiten hatte Henrik gehört, Sander sei munter, temperamentvoll und robust gewesen. Auf dem Bild sah er ganz anders aus. Es war etwas an seinem Lächeln, seiner Zurückhaltung, das Henrik nicht hatte deuten können. Zu Hause bei Ellen und Jon hatte es übrigens kein einziges Foto des Jungen gegeben, fiel ihm jetzt ein. Nicht einmal einen Schnappschuss am Kühlschrank.
Komisch, dachte Henrik Holme, aber wohl kaum von Bedeutung für den Fall.
Eigentlich hatte er kaum etwas, das von Bedeutung für den Fall war. Nur eine vage Unruhe, die mit einem Bild von Sander aus der ersten Klasse zusammenhing, und den widerwilligen Bericht einer Lehrerin über einen Jungen, der immer wieder mit größeren oder kleineren Verletzungen zur Schule kam.
»Nur eine Bagatelle«, hatte der Junge dann gesagt.
Manchmal hatte Sander ausführlich und spannend über die Ursachen seines Missgeschicks berichtet, hatte die Lehrerin erzählt. Aber bei seinem letzten Armbruch, einem dramatischen Sturz von einer Leiter, bei dem sein Pullover hängen geblieben war und sein Vater ihn aufgefangen hatte, wie in einem Film, hatte er nichts sagen wollen.
»Nur eine Bagatelle«, flüsterte Henrik vor sich hin.
Oder eine Lügengeschichte. Die Jon sich ausgedacht hatte. Er hatte den Jungen zum Arzt gebracht.
Mit schneller werdendem Puls öffnete Henrik die Schublade. Er zog die am wenigsten verdächtigen Krankenberichte aus dem Umschlag und merkte, dass seine Hände zitterten, als er sie überflog. Nur ein einziges Mal hatten beide Eltern den Jungen nach Volvat begleitet. Und zwar, als sie nicht schlafen konnten. Sonst hatte Ellen den Jungen gebracht, nach der Sache mit dem Wespennest und bei der Ohrenentzündung, bei den Windpocken und seinen Magenschmerzen. Und sie hatte Sander nach dem Unfall am Rodelhang zum Arzt gebracht.
Nicht Jon.
Henrik steckte die Papiere wieder in den Umschlag und griff nach dem Stapel mit den verdächtigeren Verletzungen.
Jon Mohr hatte Sander zum Arzt gebracht, als der Junge von der Terrassentreppe gefallen
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