Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
zurückgesunken. Von den großen Trauerbirken bei der Kirche fielen schwere Tropfen auf Regenschirme und dunkle Mäntel. Die Trauergäste standen in Gruppen beieinander und redeten leise, mit zurückhaltenden Kommentaren über diesen Sommer, den keiner von ihnen wohl jemals vergessen würde. Die Kirchenglocken läuteten langsam und unregelmäßig, als ob sie bald keine Kraft mehr haben würden. Als ein Eichhörnchen einen Baumstamm heruntergelaufen kam und verängstigt durch die Schar von schwarz gekleideten Menschen huschte, reagierte niemand. Irgendwann ließen sie sich von dem strömenden Regen ins Kircheninnere treiben.
Es waren überraschend viele gekommen, in Anbetracht der Umstände und der Tatsache, dass Ferien waren. Inger Johanne hatte lange am Rand der kleinen Gruppen gestanden, dann sah sie Joachim, der vom Glads vei her über den Rasen gelaufen kam. Im selben Moment sah er sie, kam mit erleichtertem Gesicht auf sie zu und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Bist du allein?«
»Ja. Mein Mann konnte sich nicht freinehmen.«
»Können wir zusammensitzen?«
»Ich wollte mich nach ganz hinten setzen. Aber du müsstest doch eigentlich nach vorn? Du gehörst doch fast zur Familie ...«
Joachim schaute sich eilig um, dann ließ er sie los und rieb sich die Hände, als ob ihm kalt sei.
»Lieber nicht«, murmelte er. »Verdammt, ich war doch noch nie auf einer Beerdigung ...«
Die letzten Trauergäste hatten sich bereits in die Kirche begeben. Inger Johanne ging auf die großen Türen zu, und Joachim folgte ihr. Der Organist spielte ein unglaublich trauriges Präludium, als ob der Anblick des kleinen weißen Sarges ganz vorn nicht schon bedrückend genug wäre. Ein Mann in einem schwarzen Anzug verbeugte sich kurz vor ihnen und reichte ihnen ein kleines Programmheft. Inger Johanne nahm ein Gesangbuch von einem Stapel auf einem Tisch und zeigte auf die vorletzte Bank, dann folgte sie Joachim und setzte sich neben ihn.
Die große Kirche war fast halb voll. Inger Johanne kannte einige, aber bei Weitem nicht alle. Marianne hatte ihren Elektriker mitgebracht und saß ganz vorn. Noch andere von denen, die am 22. Juli bei Ellen zum Essen eingeladen gewesen waren, hatten sich eingefunden. Inger Johanne schätzte, dass mindestens zweihundertfünfzig Menschen in der Kirche saßen. Bemerkenswert viele waren schon älter. Sicher Bekannte von Helga Mohr. Als Inger Johanne hörte, dass die Tür hinter ihr geöffnet und wieder geschlossen wurde, schaute sie sich verstohlen um.
Agnes und Torbjørn Krogh kamen hereingeschlichen und setzten sich in die letzte Bank, auf der anderen Seite des Mittelganges. Inger Johanne versuchte, ihnen zuzulächeln, aber sie zogen die Köpfe ein und starrten nach vorn. Torbjørn legte den Arm um Agnes’ Schulter. Sie weinte jetzt leise. Vermutlich würden sie noch vor Beendigung der Trauerfeier wieder gehen, aus Angst vor einer offenen Konfrontation.
Lieber Gott, dachte Inger Johanne, danke dafür, dass ich in all den Jahren mit Mama und Papa durchgehalten habe. Danke dafür, dass sie es mit mir ausgehalten haben. Ich könnte eine solche Situation nicht ertragen.
Sie hatte nie an Gott geglaubt, aber wenn es jemals einen Grund geben könnte, sich an ihn zu wenden, dann doch wohl hier. Sie richtete den Blick auf das große Glasfenster hinter dem Altar aus sieben rechteckigen Feldern in Orange- und Blautönen, in dem sie nur mit Mühe etwas Religiöses sehen konnte.
Nordlicht, vielleicht.
Der Himmel, wo Gott wohnt.
Joachim saß unruhig neben ihr. Er spielte an dem kleinen Heft herum, auf dessen Titelblatt ein Foto von Sander zu sehen war. Es war das gleiche Foto, das auch bei Helga Mohr im Gang hing, sah Inger Johanne, und sie empfand einen seltsamen Ärger darüber, dass sie kein neueres genommen hatten. Der Junge wäre in zwei Wochen in die dritte Klasse gekommen. Dieses Bild aber war am allerersten Schultag aufgenommen worden. Es kam ihr respektlos vor, wie eine Leugnung der Tatsache, dass Sander ein Kind gewesen war, das wuchs, neue Zähne bekam, sich entwickelte und zu einem anderen wurde als der verlegene Wicht vor der Tafel, auf der »1 a« stand.
Sie schloss die Augen und versuchte zu vergessen, wo sie war.
Am Sonntag würden die Kinder nach Hause kommen. Sie waren noch nie so lange weg gewesen. Plötzlich schien sie die Sehnsucht zu überwältigen, ein physisches Ziehen im Körper, bei dem sie aufschluchzte und sich an die Brust griff. Als der Pastor zu sprechen
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