Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
würde, sie sah schon Jons Schwestern vor sich, wie sie herbeistürzten, ehe Ellen zu Boden sank, sie sah Jon, passiv und wie gelähmt, sie hörte schon, wie der Polizist ihn höflich, aber energisch bat, mit ihnen zu kommen – das alles lange, ehe er Jon und Ellen erreicht hatte und Ellen in Ohnmacht fiel und alles seltsam still wurde.
»Henrik Holme hat sich geirrt«, sagte sie leise. »Jon kommt nicht ungeschoren davon.«
Wenn ihre Aufmerksamkeit sich nicht nur nach vorn gerichtet hätte, wenn sie in diesem Augenblick äußerster Konzentration auch den wahrgenommen hätte, der hinter ihr stand, hätte sie in seinem Gesicht eine ebenso ungeheure Angst gesehen wie jetzt in dem von Jon, als er abgeführt wurde.
Aber das tat sie nicht, und drei Minuten später, als Leichenwagen und Polizei verschwunden waren und sie sich zu Joachim umdrehte, hatte er sich wieder gefasst.
»Oh Scheiße. Oh verdammter Mist, was für miese Schweine! «
Es war inzwischen sechs Uhr abends, und Ellen Mohr konnte endlich wieder in ihr Haus. Die Polizei hatte zwei Stunden für die Durchsuchung gebraucht. Ellen war inzwischen bei Helga gewesen, ohne etwas anderes zu tun, als die Wand anzustarren. Ihre Schwiegermutter war fast ebenso handlungsunfähig gewesen. Schweigend hatten sie dort gesessen, auf den weißen Sofas, in dem perfekt eingerichteten Zimmer, wo der alte Wilhelm Mohr sie beide in stummer Skepsis anstarrte. Selbst, als ihnen mitgeteilt wurde, dass sie das Haus im Glads vei wieder betreten dürften, hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Als Helga vor der Garage gehalten hatte, registrierte Ellen vage, dass die Schwiegermutter mit ins Haus kam, statt nach Vinderen zurückzufahren. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass sie das MacBook zerstört hatte, bevor die Polizei es hatte mitnehmen können. Der große iMac in Jons Arbeitszimmer war auch beschlagnahmt worden, doch darauf gab es nichts Gefährliches.
Ein Polizist hatte im Haus auf sie gewartet. Er hatte ihnen höflich die Schlüssel überreicht, hatte jedoch, wie schon die beiden vor der Kirche, auf Helgas Frage nach dem Grund von Jons Festnahme keine Antwort geben wollen. Als ob das nötig wäre, dachte Ellen und ließ sich in der Badewanne tiefer sinken. Die Polizei glaubte, Jon habe Sander umgebracht. Das hatten sie die ganze Zeit geglaubt. So war die Polizei eben, hatte Helga gesagt, sie verbissen sich in einer Theorie wie ein Raubtier in einer saftigen Beute.
Aber es gab keine Beweise.
Alles würde ein gutes Ende nehmen, redete sich Ellen ein.
»Alles wird gut.«
Sie flüsterte diese Worte in den Dampf, der aus dem viel zu heißen Wasser aufstieg, ehe sie den Kopf untertauchte.
»Alles wird gut«, sagte sie noch einmal, als sie sich wieder aufsetzte. »Ich habe alles Schlimme gelöscht.«
Sie griff nach dem Plastikbecher auf dem Wannenrand, der Gin und Tonic zu gleichen Teilen enthielt, und trank.
Ellen hatte an all das nicht mehr gedacht, nachdem sie Jons Laptop zerstört hatte, und sie würde auch nicht wieder daran denken. Was sie an Bildern und Chatforen gesehen hatte, entsprach nicht Jons Geschmack, es musste ein Irrtum sein. Jon war nicht so. Sie lebte seit fünfzehn Jahren mit ihm zusammen. Sie kannte ihn besser als alle anderen, besser als Helga, die glaubte, alles über ihren Sohn zu wissen. Helga hatte Jon nicht gesehen, als er ganz er selbst gewesen war, als er Ellen erobert hatte, weil er fast zehn Jahre nach dem Abitur als ein ganz anderer aufgetaucht war: anders und energisch, streng und düster in der Nacht. Er war immer stark und entschieden, und er zog sie auf eine Weise an, zu der kein anderer in der ewig langen Reihe von Bewerbern imstande gewesen war, Ärzte und Segler, Adonisse und Anwälte, sie waren blond und freundlich rund um die Uhr und hatten nie begriffen, wonach Ellen sich wirklich sehnte. Sie kannte Jon, und diese schlimmen Dinge mussten ein Irrtum sein, das war nicht er.
Sie setzte sich in der Badewanne auf und fuhr mit dem Hanfhandschuh in langen schmerzhaften Zügen über ihre Haut. Die Wunde an ihrer Hand war verheilt: ein schmaler roter Streifen, umgeben von weißem Gewebe. Eine Narbe würde vielleicht bleiben, so wie alle Ereignisse der letzten beiden Wochen in ihrem und Jons Leben Spuren hinterlassen würden, aber damit konnte man leben, auf längere Sicht, es musste möglich sein, neue Wege zu gehen, wenn nur Jon nach Hause kam und die Polizei einsah, dass er Sander nie etwas angetan hätte.
Das Düstere
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