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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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begann, geriet sie fast in Panik. Sie konzentrierte sich darauf, zu atmen und nicht hinzuhören, sie wollte diese Stimmung nicht wahrnehmen, all diese erwachsenen Menschen, die von einem Jungen Abschied nehmen mussten, dessen Leben vorüber war, noch ehe es richtig angefangen hatte.
    »Ist alles in Ordnung?«, flüsterte Joachim und legte ihr die Hand auf den Oberschenkel.
    »Hat Sander keine Freunde?«, antwortete sie kaum hörbar. »Wo sind die Kinder von Jons Schwestern? Hier sind keine Kinder.«
    »Die sind erwachsen. Sie sind hier. Sie sitzen da vorn.«
    Ihr war schlecht geworden, und sie griff sich an den Bauch, fuhr mit der Hand über die straffe Haut unter dem schwarzen Rock, der so eng war, dass sie ihn im Rücken mit einer Sicherheitsnadel zusammenhalten musste.
    Sie wollte die Kinder wieder bei sich haben. Sie wollte die Uhr zurückdrehen, oder vor, das war egal, nur wollte sie nicht hier sein und Ellens Schreie hören müssen, die ab und zu die Rede des Pastors zerrissen und das karge Kirchenschiff mit einem Schmerz füllten, der unerträglich war.
    »Ich glaube, ich muss gehen«, flüsterte sie.
    »Nein. Bitte nicht. Ganz ruhig atmen. Hier, nimm eine Lakritzpastille.«
    Der Lakritzgeschmack war so intensiv und stark, dass ihr die Tränen kamen, sie schloss die Augen, atmete, so ruhig sie konnte, durch die Nase und griff nach Joachims trockener, warmer Hand.
    Am Ende hatte sie keine Ahnung, wie lange die Feier gedauert hatte. Sie erhob sich müde, jedes Mal wenn Joachim sie anstupste, und setzte sich, wenn er an ihrer Jacke zupfte. Jetzt schien sie aus einer tiefen Bewusstlosigkeit zu erwachen. Sie drehte sich verwirrt zum Mittelgang, wo Jon und drei andere Männer, die sie nicht kannte, den Sarg hinaustrugen.
    »Ich halte dich fest«, flüsterte Joachim, als sie schwankte.
    Ellen ging hinter dem Sarg her. Links und rechts von ihr gingen Jons Schwestern, die Ellen fast zu tragen schienen. Sie weinte nicht mehr. Sie hatte die Augen aufgerissen, und ihr Mund stand halb offen in einem überraschten, unpassenden Ausdruck, als gehe ihr jetzt erst auf, dass Sander wirklich tot war. Als Inger Johanne zur hintersten Bank auf der anderen Seite des Mittelgangs hinüberschaute, waren Agnes und Torbjørn verschwunden.
    Weder Ellen noch Jon standen vor der Kirchentür, um Beileidsbekundungen entgegenzunehmen, als Inger Johanne und Joachim als Allerletzte herauskamen. Der Sarg war bereits in den Leichenwagen gestellt worden. Ellen stand daneben wie eine Salzsäule, Jon hatte beide Arme um sie gelegt, auch er steif wie ein Soldat.
    »Was machen wir jetzt?«, flüsterte Joachim so dicht an Inger Johannes Ohr, dass sie seine Lippen über ihre Haut streifen spürte. »Müssten wir nicht etwas sagen? Ich dachte, sie würden hier stehen und ...«
    Er unterbrach sich, als er dasselbe sah wie Inger Johanne.
    Ein dunkles Auto stand ein wenig weiter unten auf der Auffahrt. Es versperrte dem Leichenwagen den Weg, und zwei Männer stiegen aus, die offenbar nicht vorhatten, ihr Auto anderswo abzustellen. Beide waren dunkel gekleidet, wie der Rest der großen Trauergemeinde, die jetzt stumm darauf wartete, dass die Türen des Leichenwagens geschlossen würden. Statt zur Kirche zu kommen, blieben die Männer auf halber Strecke stehen.
    »Polizei«, flüsterte Inger Johanne. »Das ist Zivilpolizei.«
    »Was?«
    Joachim griff sich an den Mund.
    »Was wollen die hier?«, fragte er so laut, dass eine Frau fünf Meter vor ihnen sich umdrehte und verärgert den Finger an die Lippen legte.
    »Das werden wir bald erfahren«, sagte Inger Johanne.
    Sie fühlte sich seltsam wach. Nach dem Anfall in der Kirche schienen ihre Kräfte jetzt in zehnfacher Stärke zurückzukehrten. Sie registrierte alles. Noch aus fünfzig Metern Entfernung konnte sie sehen, dass der eine Polizist gerade eine Herpeswunde im Mundwinkel bekam. Der schwere Staubgeruch des regennassen Asphalts zwang sie, durch den Mund zu atmen, und sie hatte das Gefühl, den Ereignissen drei Schritte voraus zu sein, als der Leichenwagen sich langsam in Bewegung setzte. Die beiden Männer näherten sich nun, als der schwarze Mercedes, der Sander Mohrs Sarg transportierte, über den Rasen fuhr, um dem anderen Wagen auszuweichen. Als die Polizisten sich in Bewegung setzten, wusste sie, dass Ellen bald wieder schreien würde. Sie zeigten ihre Ausweise, wie das die Vorschriften verlangten, und Ellen heulte so laut auf, dass Jon sie losließ. Inger Johanne wusste, was jetzt passieren

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