Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Elin Foss«, sagte er und stand auf, um das Fleisch ein weiteres Mal umzudrehen.
Es war angebrannt, und er versuchte, es vom Grillrost zu lösen. Er griff zu einer Sprühflasche mit Wasser und dämpfte die Flammen, die das herabtropfende Öl auflodern ließ.
»Haben Sie eine Ahnung, wie viele besorgte Meldungen die im Laufe eines Jahres einreicht?«
Inger Johanne war es unangenehm warm, und sie versuchte, mit dem Stuhl noch weiter in den Schatten zu rücken, aber er war zu schwer.
»Natürlich nicht.«
»Aber ich kann es Ihnen sagen. Zwischen zehn und fünfzehn. Jedes Jahr. In all den sechs Jahren, in denen sie jetzt an unserer Schule angestellt ist. Bei einigen geht es um dieselben Kinder, aber insgesamt sind es wohl vierzig bis fünfzig Familien, die Elin Foss angeschwärzt hat.«
Inger Johanne hatte keinen Hunger mehr. Sie musste sauer aufstoßen und fing an zu husten.
»Gewalt gegen Kinder ist ein ernst zu nehmendes Problem«, sagte Ragnar Reiten und riss ein großes Stück Alufolie von einer Rolle. »Zahlenmäßig ebenso wie von der Sache her. Aber diese Vorwürfe sind doch an den Haaren herbeigezogen. Elin Foss ist eine ungelernte Unruhestifterin, aber sie liebt Kinder. Sie hat viele gute Seiten. So lange sie ihre irrsinnigen Misshandlungstheorien nicht mit den Kindern diskutiert, drücken wir deshalb ein Auge zu, wenn jeden Monat oder noch häufiger eine Meldung auf meinem Schreibtisch landet.«
Er wickelte die Alufolie mit einer Geschicklichkeit um das Entrecote, die zeigte, dass er das nicht zum ersten Mal machte, und legte es auf den Anrichtetisch.
»So«, sagte er. »Und Sie wollen bestimmt nicht zum Essen bleiben?«
Inger Johanne erhob sich.
»Bestimmt nicht. Sehen Sie sich die Meldungen denn überhaupt an?«
»Ja. Natürlich. Jede einzige verdammte Meldung wird überprüft und von mir und meinem Stellvertreter diskutiert. Bekanntlich findet ja auch ein blindes Huhn manchmal ein Korn, und ich würde niemals wagen, diese Mitteilungen einfach wegzuwerfen. Zweimal, was aber jetzt schon länger her ist, hatten wir auch Grund, der Sache nachzugehen. Beide Male erwies die Besorgnis sich als restlos unbegründet.«
Er legte die Hand an die Stirn und hielt Ausschau nach Kari.
»Kari! Kari, wo steckst du?«
Ein schwarz gelockter Kopf tauchte hinter dem Steg auf.
»Jetzt hab ich genug Muscheln, Papa!«
»Schön. Dann leg dich auf dem Steg auf den Bauch, damit du nicht ins Wasser fällst.«
Die Möwen schrien über der pittoresken Szene am Wasser. Hundert Meter weiter draußen tuckerte ein kleines Holzboot vorbei. Kari kletterte auf den Steg, setzte sich in den Schneidersitz und fing an, mit einem großen Stein Muscheln aufzuschlagen.
»Elin Foss ist fast eine Parodie auf eine Altlinke«, sagte Ragnar Reiten mit nachsichtigem Lächeln. »So eine, die diesen Unsinn nie ganz aufgegeben hat. Die deutlichste Parallele zwischen allen Kindern, um die sie sich Sorgen gemacht hat, war, dass ihre Väter alle reich und erfolgreich sind und meistens in der Wirtschaft arbeiten. Sie ist eben gegen alles, was nach ›Patriarchat und Kapitalismus‹ riecht.«
Er schaute sie halb mitleidig an.
Inger Johanne wandte sich ab.
»Tut mir leid. Das war ja wohl ein Schuss in den
Ofen.«
»Nicht unbedingt.«
Es hörte sich an, als ob er lächelte. Sie starrte noch immer auf das Meer hinaus.
»Wenn das nun dazu führt, dass Sie die Angelegenheit auf sich beruhen lassen, haben wir Ellen und Jon einen großen Gefallen getan. Sie leiden beide sehr.«
»Das weiß ich. Ich möchte Sie noch einmal bitten, die Störung zu entschuldigen. Und jetzt muss ich zurück nach Oslo.«
Ragnar Reiten hob die Hand zu einem schlaffen Gruß. Er interessierte sich schon mehr für den Kartoffelsalat und öffnete ein Glas Kapern.
»Fahren Sie vorsichtig«, rief er, als sie um die Ecke bog und einen letzten Blick auf das Mädchen unten am Wasser warf.
Kari war aufgestanden und hob triumphierend einen Arm zu ihr hin. An ihrer Hand hing eine Schnur, die fast so lang war wie sie selbst. Unten klammerte sich ein Krebs mit einer Schere an eine zerschlagene Muschel.
»Schau mal! Der ist riesengroß!«
Inger Johanne hob den Daumen und versuchte zu lächeln, ehe sie zum Auto ging und dabei in Gedanken ihr übliches Stoßgebet zum Himmel sandte: »Mach, dass der verdammte Wagen anspringt!«
7
Sander Mohr wurde bei strömendem Regen beigesetzt.
Es war Freitag, der 5. August, und der Sommer war wieder in die übliche norwegische Kühle
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