Schattenkrieg
Rowena selbst hatte ihr einmal in einer einzigen Erklärung alle drei Varianten erzählt. Keelin hatte sie darauf angesprochen, doch die Lehrerin sah keinen Widerspruch. »Ist es denn letztendlich nicht egal,
woher
genau wir die Kräfte haben? Die Götter sind unsere Religion, die Ahnen unsere Kultur und die Geister die Kräfte der Natur, die wir als Druiden zu schützen gelobt haben. Wir halten also ohnehin alle drei Kräfte in Ehren. Was schert es da, woher wir unsere Kräfte beziehen?«
Die Erklärung war so einfach wie pragmatisch. Keelin tat sich dennoch schwer. Sie war noch nie in irgendeiner Weise religiös gewesen. An den Ahnen konnte sie nicht zweifeln – die Stimmen bewiesen ihre Existenz. Von den Geistern hatte sie immerhin einen schon einmal gesehen, den Adler während ihres Initiationsritus, der das Glen Affric beschützte. Doch die Götter?
Immerhin hatte Keelin sich die Mühe gemacht zu lernen, welcheGötter es gab: Dagda, der Totenherr, war mit der Kriegsgöttin Morrigan verheiratet. Der Sonnengott Lugh hatte die Menschen mit der Muttergöttin Bormana gezeugt. Die Erdgöttin Brigantia stand für das Land und alles, was daraus hervorging. Sul, ihr Mann, stand für die Heilung. Tarannis war der für Keelin unwichtige Gott des Wetters, wichtiger war seine Frau Arduina, die für das Vieh und andere Tiere zuständig war. Daneben gab es noch Dutzende minderer und lokaler Götter, und jede der großen Gottheiten besaß verschiedene Aspekte, die zu allem Überfluss auch noch eigene Namen trugen.
Als Keelin mit dem Frühstück fertig war, ging sie nach drüben in die Hexenküche. Auch dies gehörte zur allmorgendlichen Routine. Niemand hatte das jemals angeordnet, aber Keelin hatte einfach das Gefühl, dies Rowena und ihrer Familie schuldig zu sein. Fünfzehn Minuten ohne diese fremde junge Frau aus der Außenwelt war zwar nicht viel; doch Rowena hatte sie noch nie aufgehalten, woraus Keelin schloss, dass sie diese kurze Zeit durchaus zu schätzen wusste.
Keelin griff nach dem Besen und machte sich daran, die Küche auszufegen. Gestern hatten sie ihre Bestände an getrockneten Kräutern kontrolliert und dabei einiges weggeworfen, was schon zu lange gelagert worden war. Die Arbeit mit den krümeligen Pflanzen hatte viel Staub aufgewirbelt, bis sie am Ende aus dem Niesen und Lachen nicht mehr herausgekommen waren. Nun galt es, die Spuren zu beseitigen.
Sie war mehr als überrascht, als es an der Tür klopfte. Es war viel zu früh für Besucher. Außerdem hatte sie noch nie erlebt, dass ein Außenstehender den Hintereingang zu Rowenas Haus benutzte. Neugierig stellte sie den Besen zur Seite und öffnete die Tür. Davor stand eine Frau, eingehüllt in ihren grün und blau karierten Großtartan sowie einem Überwurf aus Fell. Es war Fiona Mackenzie.
»Darf ich reinkommen?«, fragte die Druidin. Dampfwölkchen kondensierten vor ihrem Mund in der morgendlichen Kälte.
Keelin trug den Knochenzauber nicht bei sich, doch der Intensivkurs der letzten Wochen hatte ihr genügend Gälisch beigebracht, um sie zu verstehen. »Natürlich«, meinte sie und trat zur Seite. »Aber Rowena findet Ihr auf der anderen Seite.«
Fiona zog die Wollfäustlinge von den Händen und ließ sie in einer Tasche ihres Umhangs verschwinden. Sie ging zum Herd und begann, ihre Hände daran zu wärmen. »Ich weiß«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Aber ich will sie nicht stören. Eigentlich wollte ich sie fragen, ob ich mir wohl ihre Schülerin ausleihen dürfte – für einen oder zwei Tage.«
»Was habt Ihr denn mit der Schülerin vor?«
»Lass gefälligst das ›Ihr‹, so alt fühle ich mich noch nicht. Außerdem waren wir das letzte Mal auch schon beim ›Du‹, wenn ich mich nicht irre. Ich möchte dich nach Inverness mitnehmen.«
Inverness?
Keelin spürte, wie sich ihr Inneres gegen den Gedanken sträubte.
Was habe ich noch in Inverness verloren?
»Warum?«, fragte sie steif. Sie verspürte keinen Drang danach, in die Stadt zurückzukehren, in der die Schatten herrschten.
»In meinem Leben habe ich viele Druiden kennengelernt, die sich dagegen gewehrt haben, zurück in die Außenwelt zu gehen. Aber wir können es uns nicht leisten, uns von unserer Vergangenheit abzuschotten.« Sie sah sich zu Keelin um. »Wir Druiden haben Verantwortung – nicht nur für die Menschen hier, sondern für unsere Welt. Unsere
ganze
Welt. Wir führen einen Krieg gegen die Schatten, auch wenn es manche von uns nicht merken. Wir können nicht
Weitere Kostenlose Bücher