Schattenkrieg
bereit war, sich vor Aldrics Augen auszuziehen, hatte er kurzerhand vor der Tür mehrere hölzerne Stangen in den Boden gerammt und ein großes Stück Leder dazwischen aufgespannt.
Keelin wunderte sich immer wieder über die Unkompliziertheit der Innenwelt – dasselbe Lederstück konnte als Zelt fungieren oder als Windschutz, wenn ein besonders starker Sturm durch die hölzernen Fensterläden blies, oder als Arbeitsdecke, um darauf Getreide zu stampfen. Und wenn es danach den einen oder anderen Fleck mehr hatte, dann war es in den meisten Fällen völlig egal.
Als sie wieder ins Haus trat, plärrte Andras laut vor sich hin, wie immer, wenn sein Vater ihn wusch. Keelin deckte den Tisch. Es gab dunkles, noch nach Backofen duftendes Brot, das einer von Rowenas Gefolgsleuten vorbeigebracht hatte, frische Butter, einen in der Kälte steinhart gewordenen Honig und Schafskäse. Trinken würden sie eiskaltes Wasser aus dem See oder frische Milch von den Kühen eines Gefolgsmannes.
Etwa zehn Minuten später saßen sie zusammen am Tisch und frühstückten. Wie meistens redete Rowena mit ihrem Mann über die verschiedensten Dinge. Die beiden älteren Kinder plapperten unter sich und versuchten mehr oder weniger erfolgreich, ihren kleinen Bruder zu füttern, der in einem Hochstuhl ebenfalls am Tisch saß. Wie üblich produzierten sie dabei eine riesige Sauerei. Keelin fand – wie meist während des Frühstücks – keinerlei Beachtung. Sie hegte deswegen keinen Groll – Rowena verbrachte jeden Tag viel mehr Zeit mit ihr, der Schülerin, als mit Aldric oder ihren Söhnen. Wer sollte ihr dann übelnehmen, wenn sie die Zeit währenddes Frühstücks ihrer Familie widmete? Keelin nutzte die Gelegenheit, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.
Rowena hatte selbst ohne Keelins Ausbildung mehr als ausreichend zu tun. In den Wochen seit ihrer Ankunft waren sie viel in den Gegenden außerhalb des Glen Affric herumgereist, um in den verstreut liegenden Dörfern Krankheiten und Verletzungen zu behandeln. Keelin hatte wieder gelernt, wie man Gipsverbände anlegte und Brüche schiente, und sie hatte Rowena bei einfachen Eingriffen wie der Behandlung von Hämorrhoiden und Abszessen assistiert.
Bei diesen Gelegenheiten war sie zu vielen wichtigen Erkenntnissen gelangt. Zum einen war der Magiestrom, der rund um das Loch Affric herrschte, nicht überall in der Innenwelt so stark. Jenseits der Heiligtümer fühlte sich die Welt drinnen kaum anders an als draußen. Auch war es nur in der Nähe der Heiligtümer möglich, die Welten zu wechseln. Schließlich und endlich hatte sie bei diesen Reisen viel über die Gesellschaft gelernt, in der die Kelten lebten.
Die übliche Behausung der schottischen Kelten schien das Rundhaus zu sein. Es gab es in kleineren und größeren Varianten, meist mit Wänden aus Lehm und Weidengeflecht sowie Dächern aus Stroh oder Reet. Oft lebten sie mit ihrem Vieh unter einem Dach, die größten Rundhäuser wurden sogar von mehreren Familien bewohnt. Nichtsdestotrotz lebte es sich darin beengt und schmutzig. Nur die reichen Kelten wie Druiden, Handwerker oder Grundbauern besaßen Langhäuser. Diese Gebäude dienten meist vielerlei Zwecken: Sie waren Wohnung und Stall, Versammlungsort und Werkstatt in einem. Tagsüber wurde im Haus gearbeitet, abends an der Tafel gegessen und nachts auf den Bänken geschlafen.
Das Sippenoberhaupt der keltischen Familie war in aller Regel ein Mann, was Keelin ärgerte. Viel schlimmer war jedoch, dass in der Innenwelt die Sklaverei noch praktiziert wurde. Die Kelten benutzten zwar andere Worte – unfrei, leibeigen –, aber letztendlich lief es auf dasselbe hinaus. Unfreie waren oft Kriegsgefangene wieFomorer oder Germanen, die noch aus Zeiten des Letzten Germanenkriegs überlebt hatten. Aber auch Germanen, die in heutiger Zeit eine Aura entwickelten und in die Innenwelt gebracht wurden, wurden zu Unfreien, was Keelin so nicht akzeptieren wollte. Wenn sie eine Germanin gewesen wäre statt eine Keltin, wäre sie jetzt eine Sklavin und auf Gedeih und Verderb ihrem Herrn ausgeliefert. Die meisten Herren gingen zwar sehr menschlich mit ihren Leibeigenen um, doch es gab auch andere. Manch eine der Verletzungen, die sie in der vergangenen Zeit behandelt hatte, war von einer Peitsche oder einem Prügelstock verursacht worden.
Nur um das Loch Affric herum gab es keine Leibeigenschaft. Der Adlergeist des Glens führte, soweit sie verstanden hatte, beständig einen spirituellen Krieg gegen
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