Schattenkrieg
gerade noch Zeit gelassen, um »Bremsen!« zu rufen, bevor eine Rakete vor der Windschutzscheibe des Wolfs vorbeigeschossen war und eine Mauerwand gesprengt hatte. Heute Nacht war Fuchs in den bisher schwersten Hinterhalt seit Veronikas Ankunft geraten, mit zwei Toten und sieben Verletzten.
Am Morgen hatte Fatima in der Basis angerufen und ihr ausrichten lassen, dass der Dolmetscherjunge, von dem sie bei ihrem letzten Treffen gesprochen hatte, von einem Verwandtschaftsbesuch in Prilepnica zurückgekehrt war und man vorbeikommen könnte, um den Vertrag zu unterzeichnen. Veronika hatte beschlossen, der Aufforderung sofort nachzugehen, bevor es sich Fatima noch einmal anders überlegen konnte. Sie brauchte einen zuverlässigen Dolmetscher dringender denn je.
Zuerst hatte sie den Jungen abgeholt. Marwan war ein gutes Stück kleiner, als sie erwartet hatte, sprach aber ein sehr gutes Deutsch. Natürlich war er etwas verschüchtert, aber sie hoffte, dass er mit der Zeit schon auftauen würde. Ein schüchterner Dolmetscher wäre ihr keine große Hilfe.
Unterwegs nach Kusce beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. Sie hatte
Angst
vor dem Gespräch mit Fatima. Würde sich die Lehrerin genauso gefühlskalt und abweisend verhalten wie bei ihrem letzten Treffen? War ihre Freundschaft beendet? In der kurzen Zeitwar Fatima für Veronikas Leben enorm wichtig geworden – sie war die Einzige hier auf dem Kosovo, mit der Veronika hatte reden können, ohne über irgendwelche Auswirkungen und dienstliche Gepflogenheiten nachzudenken. Außerdem konnte sie von Fatimas Erfahrungen im Umgang mit übertrieben selbstbewussten Männern nur profitieren. Nun schien das alles wieder verloren zu sein. Mit dem Verlust war die Niedergeschlagenheit zurückgekehrt.
Doch sosehr sie auch Wassermann befehlen wollte, einfach umzudrehen und zum Stützpunkt zurückzukehren – sie konnte nicht. Sie
durfte
nicht. Der Vertrag musste abgeschlossen werden, ein Dolmetscher war für ihre Arbeit lebensnotwendig. Wenn die Fallschirmjäger weiter nur wie Zielscheiben durch die Gegend rollten, würde sie nichts erreichen außer noch mehr Verwundeten und Toten. Erst wenn sie verstand,
warum
sie angegriffen wurden, konnte sie die Situation vielleicht beeinflussen.
Wassermann stellte den Wolf vor der Schule ab. Veronika ordnete ihm an, draußen zu bleiben und auf den Wagen aufzupassen, was ohnehin in ihrer beider Interesse lag: Wassermann durfte rauchen und würde nichts mitbekommen von dem, was Veronika mit der Lehrerin zu besprechen hatte.
Fatima öffnete selbst. Sie begrüßte Marwan ausgiebig, während sie für Veronika nur ein grimmiges Nicken übrighatte. Dann brachte sie sie nach oben in ihre Wohnung und bot ihr höflich Tee an, den Veronika ebenso höflich ablehnte. Während sich Marwan gierig auf ein paar Kekse stürzte, zog Veronika das Dokument aus der Jackentasche und reichte es Fatima.
Die Lehrerin nahm sich viel Zeit damit, es durchzulesen. Schließlich fragte sie: »Warum ist das auf mich ausgestellt, Frau Leutnant?«
»Die Bundeswehr darf keine Minderjährigen beschäftigen. Wenn ich den Vertrag auf den Jungen ausstelle, wird er von den Bürokraten im Stab nicht genehmigt werden. Ich dachte mir, Sie würden das Geld schon weiterleiten.«
Fatima nickte. »Wo soll ich unterschreiben?«
Veronika deutete auf die leere Zeile, woraufhin die Lehrerin die drei Exemplare unterschrieb. Zwei davon verschwanden wieder in der Innentasche von Veronikas Jacke.
»Also gut«, meinte Fatima. »Nachdem das geklärt wäre …«
»Ich hätte noch eine Frage.«
Fatima sah auf. »Bitte!«
»Die Frage ist einfach.
Was – ist – passiert?
Was habe ich angestellt, dass Sie so … wütend auf mich sind?«
Für einen Moment sah Fatima aus wie vor den Kopf gestoßen. Dann änderte sich ihre Miene und schlug um in Zorn. »Was? Sie haben die Frechheit, mich
das
zu fragen?«
»Ja! Ich weiß es nicht!« Veronika spürte, wie die Empörung in ihr wuchs. Sie wurde wie eine Verbrecherin behandelt … und war sich keiner Schuld bewusst!
»Natürlich. Sie wissen es nicht!« Der triefende Hohn in Fatimas Stimme verletzte Veronika, aber sie zwang sich, ihre Gefühle in den Hintergrund zu drängen.
»Nein, ich weiß es nicht! Sagen Sie es mir bitte!«
Fatima schüttelte den Kopf. »Können Sie denn so ignorant sein? Ich habe Sie für schlauer gehalten!«
»Vielleicht bin ich nicht so schlau! Vielleicht haben meine Männer doch recht damit, mir auf der Nase herumzutanzen!
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