Schattenkrieg
es geschrieben war, reichte es aus, in die Mienen der anwesenden Polizisten zu schauen. Keiner von ihnen sah so aus, als ob er etwas gegen den gerade geschehenen Rechtsbruch einzuwenden hatte.
Nicht dass es Veronika störte – sie war froh, den Reporter losgeworden zu sein.
Doch es war schon zu spät. Die Aufmerksamkeit war auf sie gelenkt worden. Hinter ihr rief eine raue Männerstimme: »Frau Leutnant Wagner? Die, die dem Soldaten den Kopf abgebissen hat?« Der Ruf erntete Gelächter.
Veronika hielt den Mund. Vermutlich konnte sie ohnehin nichts sagen, das ihre Situation verbessern würde.
»Na, was ist los?«, rief jemand anders. »Hat Ihnen die Sprache verschlagen, was? In Jugoslawien haben Sie noch die große Klappe riskiert, aber jetzt?«
»Schon richtig so, dass es nicht nur die gewöhnlichen Soldaten erwischt! Endlich knöpft sich mal jemand die Offiziere vor!«
Das Geschrei ging weiter. Veronika war völlig entsetzt. Im Nu war in dem schweigenden, ruhigen Wartesaal ein Affentheater ausgebrochen, das sich Veronika zur Zielscheibe genommen hatte. Sie wünschte sich zwei freie Hände – mit den Handschellen war sie so hilflos, dass sie sich noch nicht einmal die Ohren zuhaltenkonnte! Ihr blieb nichts anderes übrig, als unter jeder neuen Beschimpfung zusammenzuzucken wie unter Schlägen. Tränen traten in ihre Augen. Sie kniff sie zusammen und hoffte, dass es niemand merken würde.
Irgendjemand brüllte laut »Menschenfresser!«. Der Schrei wurde von einem anderen aufgenommen, dann von noch einem. Binnen weniger Augenblicke skandierte der ganze Wartesaal das neue Motto. Veronika ließ sich in ihrem Sitz zurücksinken, ihr Kopf auf die Brust gesunken und ihr Haar ins Gesicht fallend. Unaufhaltsam liefen ihr die Tränen über die Wangen.
Plötzlich spürte sie jemanden neben sich. Die Handschellen, die ihren Oberarm an den Sitz ketteten, schnappten auf, und sie wurde hochgerissen. Schenk führte sie durch die Sitzreihe hindurch zu der Tür des Verhandlungsraums. Veronika zwinkerte, um die Augen wieder klar zu bekommen.
Der Verhandlungsraum war nicht so groß, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Abgesehen vom Pult für den Richter standen nur noch ein paar Tische und Stühle im Raum. Neben dem Pult befand sich eine weitere Tür. Veronika stellte mit Erleichterung fest, dass es offenbar weder Plätze für Schaulustige noch für Pressemitarbeiter gab. Zu ihrer Überraschung gab es jedoch auch keinen Protokollanten oder sonstigen Zeugen.
Der Richter – ein schmaler, durchschnittlich großer Mann in schwarzer Amtskleidung und einer von einem braunen Haarkranz umringten Halbglatze – lehnte mit seinem Ellenbogen auf dem Pult und tappte genervt mit seinen Fingern. »Machen Sie schon«, wies er sie barsch an. »Sie sehen doch, ich habe den ganzen Saal voll!« Nachdem sie und ihre Eskorte eingetreten waren, meinte er: »Frau Wagner, treten Sie in die Mitte. Die anderen können sich setzen.«
Veronika tat, wie ihr geheißen. Ihre Hände waren immer noch hinter ihrem Rücken gefesselt, aber sie hoffte darauf, dass der Richter gleich befehlen würde, sie ihr abzumachen.
Der Richter schob sich eine Brille auf die Nase und rasselte voneinem Blatt Papier herunter: »Frau Veronika Wagner, ehemals Leutnant, 373. Fallschirmjägerbataillon, stimmt das?«
»Ja.«
Der Richter musterte sie über den Rand seiner Brille hinweg. Nach einer unangenehmen Pause murmelte er: »
Sie
sind das also.«
Veronika zuckte innerlich zusammen. Offenbar wusste ganz Deutschland davon. Sie wagte nicht sich auszumalen, was ihre Eltern wohl denken mochten.
»Ich hätte Sie mir«, sprach er weiter, »etwas
furchteinflößender
vorgestellt, aber na ja … An die Herren Feldjäger gewandt: In diesem Gericht sieht man es nicht gerne, wenn die Häftlinge misshandelt zu Verhandlungen erscheinen. Ich erteile Ihnen hiermit einen Tadel, den ich Ihren Vorgesetzten auch telefonisch übermitteln werde.«
Seine Stimme hatte einen eindeutig arroganten Tonfall, der Mann war Veronika vom ersten Moment an unsympathisch. Sie setzte dazu an, ihm zu erklären, dass sie von den Männern nicht misshandelt worden war, doch der Richter überging ihren Einwand ebenso wie den der Feldjäger.
»Nun ja«, fuhr er unbeeindruckt fort. »Laut den Zeugenaussagen diverser Soldaten Ihrer Kompanie, einem Hauptmann Hagen, einem Oberleutnant Böhnisch, einem Leutnant Stern – und so weiter und so weiter – haben Sie, Veronika Wagner, am 8. Januar dieses Jahres einen
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